Mit Streiks wollen Millionen Beschäftigte gerade höhere Löhne erzwingen – und nehmen dabei Stillstand im ganzen Land in Kauf. Wie DGB-Chefin Yasmin Fahimi diesen Schritt rechtfertigt.
Deutschland stehen Chaostage bevor, Streiks drohen das komplette Land lahmzulegen. Nach einem Jahrzehnt mit moderaten Tarifabschlüssen drehen die Gewerkschaften jetzt richtig auf: Angesichts der hohen Inflation fordern sie für einzelne Branchen bis zu 14 Prozent mehr Geld.
Eine, die sich über diese Entwicklung nur freuen kann, ist Yasmin Fahimi. Die frühere SPD-Bundestagsabgeordnete steht seit gut einem Jahr als erste Frau an der Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). t-online hat sie in Berlin zum Interview getroffen. Ein Gespräch über die Arbeitsmoral der Deutschen, die Rolle von Geld bei den Tarifverhandlungen und den Beißreflexen mancher Arbeitgeber.
t-online: Frau Fahimi, am 27. März sollen Streiks den Bahn- und Flugverkehr lahmlegen, es droht Chaos im ganzen Land. Haben Sie da kein schlechtes Gewissen?
Yasmin Fahimi: Warum sollte ich? Bis dahin ist ja noch ausreichend Zeit für die Arbeitgeber, mit ordentlichen Angeboten Streiks zu vermeiden. Tut sich da nichts, muss man den Druck mit Augenmaß erhöhen. Einschränkungen für die Bevölkerung lassen sich dabei leider nicht ausschließen. Das gehört in einer Demokratie dazu.
Ist es denn noch Augenmaß, wenn kein Flieger fliegt, kein Zug mehr fährt?
„Kein“ stimmt nicht, denn es wird natürlich Notfallpläne geben. Beim Streik an den Flughäfen war zuletzt auch sichergestellt, dass Flugzeuge mit Hilfsgütern für die Erdbebenopfer in der Türkei trotzdem starten konnten. Ähnliches gilt in Krankenhäusern bei lebenswichtigen Operationen oder in der Industrie beim Betrieb von Kraftwerken.
In der Vergangenheit hieß es oft: Deutschland kann keinen Streik, die Gewerkschaften sind zu schwach. Erleben sie jetzt ihre große Renaissance?
Wir spüren tatsächlich einen starken Vertrauenszuwachs. Viele Beschäftigte merken, dass sie ihre Interessen im kollektiven Verbund besser durchsetzen können. Das nennen wir Solidarität. Zugleich führt die aktuell sehr hohe Inflation dazu, dass das Einkommen vieler Menschen nicht mehr zum Leben reicht. Das zeigt: Wir brauchen starke Gewerkschaften, die mehr für die Arbeitnehmer herausholen.
Und Streiks organisieren.
Streiks zeigen, wie wichtig die Arbeit der Beschäftigten ist und dass Löhne nicht der Willkür von Arbeitgebern unterliegen dürfen. Das muss dann auch mal wehtun. Schließlich geht es für Deutschland um die Frage, wie wir unser Wohlstandsmodell erhalten können.
Dieses Modell basierte in den vergangenen Jahren auch darauf, dass die Gewerkschaften zurückhaltender auftraten als etwa in Frankreich. Sind diese Zeiten nun vorbei?
Diese These teile ich nicht. Wir waren nicht zurückhaltend, sondern verhandeln immer verantwortungsbewusst. In Frankreich soll mit Streiks und Demonstrationen Einfluss auf die Politik genommen werden, damit am Ende der Präsident positiv über Gesamtforderungen entscheidet. Unser System in Deutschland ist anders. In unserem Land verhandeln wir Gewerkschaften in einzelnen Branchen direkt mit den Arbeitgebern, damit die Beschäftigten ihren gerechten Anteil am erwirtschafteten Gewinn bekommen. Das halte ich für den viel besseren Weg, weil wir so passgenaue und flexible Lösungen finden, die letztlich auch der Wirtschaft nutzen.
Yasmin Fahimi (SPD), Jahrgang 1967, ist seit Mai 2022 Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Zuvor saß sie für die Sozialdemokraten im Bundestag und diente unter der damaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles als Staatssekretärin. Fahimi zählt zum linken Parteiflügel der SPD, deren Vorstand sie bis heute angehört. Sie ist mit Michael Zissis Vassiliadis liiert, dem Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE).
Am Ende aber geht es doch meistens nur ums Geld.
Das ist ja auch wichtig, aber darüber hinaus stehen viele andere Dinge im Fokus.
Arbeitszeit, Urlaub, Altersvorsorge, Qualifizierung und vieles mehr. Im Pflegebereich etwa geht es den meisten Beschäftigten um einen besseren Personalschlüssel. Die arbeitenden Menschen dort gehen auf dem Zahnfleisch und können ihrem eigenen Anspruch auf gute Arbeit kaum mehr gerecht werden. Das schlägt sich auf ihre Gesundheit nieder, was zu noch mehr Ausfällen und damit noch höherer Belastung führt. Dennoch geht es in den Verhandlungen jetzt auch um eine faire Bezahlung. Es kann nicht sein, dass auf dem Rücken der Beschäftigten im Gesundheitssektor oder im öffentlichen Dienst der Staatshaushalt saniert wird. Die Politik muss hier endlich mutige Entscheidungen treffen.