Morgens 6.30 Uhr am Eppendorfer Weg. Der Fahrer des Müllwagens der Stadtreinigung Hamburg will nach rechts abbiegen, da schlägt sein Assistent Alarm. Ein Fußgänger, der im Nieselregen nur schwer zu sehen ist, rennt über die Straße. Der Fahrer bremst rechtzeitig. Der Assistent, der ihn gewarnt hat, ist über der Beifahrertür montiert. „Turn Detect“ heißt er. Entwickelt wurde er von der Firma Luis Technology am Hammer Deich. Der kleine Helfer ist mit einer Kamera und künstlicher Intelligenz (KI) ausgestattet. Er erkennt Fußgänger, Fahrrad- und Rollerfahrer. „Wir trainieren unser Programm mit Bildern“, erklärt Luis-Geschäftsführer Martin Groschke. „Dadurch lernt es und wird von Tag zu Tag besser.“ Die Fehlerquote liege inzwischen unter fünf Prozent, die Technik wurde in allen 420 Hamburger Müllfahrzeugen ab 7,5 Tonnen installiert.
Künstliche Intelligenz erhöht aber nicht nur die Sicherheit, sie kann auch helfen, Lagerraum optimal zu nutzen. Dafür hat Luis Technology ein KI-Kamerasystem kreiert, mit dem Speditionsdisponenten in die Anhänger ihrer LKW schauen können. Ist im Truck, der vielleicht gerade von Hamburg nach Italien unterwegs ist und in Hannover mit acht Paletten Holz beladen wurde, noch Platz für eine Zuladung von fünf oder sechs Wärmepumpen? Dann wird das Fahrzeug noch nach Holzminden dirigiert und vollgepackt. Groschke: „Im Schnitt sind fast 60 Prozent der LKW-Ladeflächen ungenutzt.“ Sein System sorge für höhere Auslastungen und so für reduzierte CO2-Emissionen. „Zudem kann der Transporteur von der Zentrale aus überprüfen, ob die Ladung richtig gesichert ist, und per Bild dokumentieren, dass der Empfänger sie erhalten hat.“
Anwendungsbeispiele von künstlicher Intelligenz im täglichen Wirtschaftsleben gibt es immer mehr, auch in Hamburg. Paul Elsholz von der Handelskammer Hamburg sieht in der „Querschnittstechnologie einen Schlüssel für den Wirtschaftsstandort Hamburg.“ Sie biete in nahezu allen Branchen neue Möglichkeiten. Als Handelsmetropole könne Hamburg „internationaler Leuchtturm für KI-Anwendungen in der Logistik und bei autonomen Transportsystemen werden“.
Auch dafür wurde 2019 das Artificial Intelligence Center Hamburg (ARIC) an der Van-der-Smissen-Straße gegründet, das vor allem Start-ups und neue Initiativen unterstützen soll. Jörn Messner, Chef von Lufthansa Industry Solutions (LHIND), ein Gründungsmitglied des Centers, betont die Erfolge: „Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ziehen hier an einem Strang und fördern den branchenübergreifenden Austausch.“ Offenbar mit Erfolg: Laut ARIC-Geschäftsführer Alois Krtil gehört Hamburg inzwischen neben Berlin und München zu Deutschlands Top3-KI-Metropolen.
In der Metropolregion kümmert sich nun auch das Netzwerk AI.Hamburg darum, das Thema künstliche Intelligenz breiter in die Öffentlichkeit und in die Wirtschaft hineinzutragen. Derzeit würden rund 140 Firmen an KI-Lösungen arbeiten. „Außerdem beschäftigen sich etwa 120 Professoren und jährlich rund 10.000 Studenten in Hamburg mit dem Zukunftsthema“, weiß Ragnar Kruse, der einst die Softwareunternehmen Smaato und Intershop aufgebaut und zusammen mit seiner Frau Petra Vorsteher AI.Hamburg aus der Taufe gehoben hat. „Wirtschaft und Wissenschaft kooperieren schon relativ gut. Es mangelt in Hamburg allerdings an privaten Investoren. So geht vielen Start-ups bei Wachstumsfinanzierungen im Millionen-Bereich die Luft aus.“
Deswegen schlägt Kruse eine „Elphi der Innovation“ vor, in der 50 bis 100 junge KI-Firmen mit Mittelständlern zusammenarbeiten könnten und in der Veranstaltungen und Schulung zu KI und Entrepreneurship abgehalten werden würden. So ein Leuchtturm-Projekt würde „Experten aus aller Welt anziehen“, glaubt Kruse.
Während gesellschaftliche Vorbehalte gegen den Einsatz künstlicher Intelligenz zuweilen noch groß sind – schließlich verändert sich die Arbeitswelt durch die neue Technologie langfristig fundamental – ist Lufthansa-Manager Messner überzeugt, dass Betriebe durch KI-Einsatz „effizienter werden, fundiertere Entscheidungen treffen und völlig neue Geschäftsmodelle entwickeln“.
Praktische Beispiele dafür gibt es in der Hansestadt schon viele. Ein Beispiel ist die Texterkennung: Millionen Dokumente werden täglich bereits von Maschinen analysiert und verarbeitet. „Software zur reinen Texterkennung wird zunehmend abgelöst durch Programme, die Zusammenhänge im Inhalt erkennen“, sagt Bruno Messmer von DXC Technology. Sogar Ironie werde registriert. Schreibt ein Urlauber in einer Mail über Lärm in seinem Hotel „Die Ruhe im Haus war toll“, ordnet die KI das Schreiben als Beschwerde ein. „Dahinter steht nicht Erkenntnis, sondern das Modul hält diese Möglichkeit einfach für am wahrscheinlichsten“, erklärt Messmer. Ähnlich intelligent sind inzwischen Spracherkennungs-Tools. Besonders sinnvoll seien KI-Textmaschinen für die IT-Sicherheit: „Sie überprüfen anhand des Inhalts eines Dokuments die notwendige Geheimhaltungsstufe. Wählt der Mitarbeiter eine zu niedrige, schwärzt die KI automatisch die sensiblen Stellen.“
Was machen Hamburger Unternehmen also derzeit schon gut? Sie entwickeln besonders viele KI-Lösungen für die Industrie, etwa für Predictive Maintenance, die vorausschauende Wartung. Anhand der Analyse von Maschinendaten von Sensoren sagt das System selbstständig vorher, wann ein Verdichter oder Schiffsmotor ausfällt. „So lassen sich durch rechtzeitige Instandhaltung Ausfallzeiten und -kosten um bis zu 50 Prozent verringern, etwa jede fünfte unnötige Wartung vermeiden und die Lebensdauer von Anlagen um bis zu 25 Prozent verlängern“, erklärt Lena Weirauch, Mitgründerin von ai-omatic am Neuen Wall. Eine Hamburger Reederei lässt auf einem ihrer Pötte einen Hilfsdiesel von dieser KI-Software überwachen, die durch Feedback-Meldungen permanent dazulernt. „Wir können auch bereits existierende Sensoren nutzen, die seit Jahren riesige Datenmengen liefern, die bisher aber niemand auswertet“, so die Start-up-Chefin.
Viele Chancen auch im Gesundheitswesen
Große Anwendungsgebiete sind auch im Gesundheitswesen vorhanden: Die Firma Evocal Health in St. Georg will Krankheiten künftig mittels vokaler Biomarker erkennen. „Veränderungen in der Stimme eines Menschen sind Indikatoren für bestimmte Erkrankungen wie beispielsweise Kehlkopfkrebs oder Parkinson“, erklärt Mitgründer Dirk Simon. „Für das menschliche Ohr sind diese kaum hörbar.“ Eine KI, die charakteristische Merkmale im Audiosignal der Stimme entdeckt, könne bei der Diagnose helfen.
Die Krebsdiagnose revolutionieren will auch Mindpeak. Felix Faber, Geschäftsführer des Start-ups, erklärt: „Ein Facharzt, der wie vor 100 Jahren Gewebeproben nur mit einem Mikroskop begutachtet und Krebszellen zählt, braucht für manche Befunde bis zu 30 Minuten, unsere KI-Lösung nur wenige Sekunden.“ Deep-Learning-Algorithmen erkennen und klassifizieren anhand hochauflösender Bilder frühzeitig und zuverlässig erkrankte Brustkrebszellen. Gefüttert wird die Software BreastIHC mit Millionen Daten aus weltweit 14 Laboren. „So wird das Programm immer intelligenter und erkennt Muster, die es vorher noch nicht gesehen hat“, erläutert Faber. „Das ermöglicht die Entwicklung noch punktgenauer wirkender Medikamente.“
Finanzbranche achtet auf KI-Konzepte
All das kostet viel Geld, oft sind hohe Investitionen nötig. Mindpeak etwa wird von der Hamburgischen Investitions- und Förderbank und Venture-Capital-Unternehmen unterstützt. Mark Miller, Managing Partner bei der Hamburger Investment Bank Carlsquare, die als M&A-Consultant Firmen und ihre Gesellschafter bei strategischen Kapitalmaßnahmen betreut, hält das Engagement von Unternehmen in Sachen künstlicher Intelligenz bei künftigen Investitions-Entscheidungen aber mittlerweile für sehr wichtig: „Die Finanzbranche achtet sehr darauf, welche Unternehmen wie weit mit der Nutzung von KI sind.“ Er sieht die Technologie als „Game Changer“ nicht nur im Gesundheitswesen, „sondern in fast allen Branchen und Unternehmensbereichen von der IT über die Logistik und Produktion bis zum Service und Personalwesen“. Miller empfiehlt auch kleineren Betrieben, sich gezielt mit KI zu beschäftigen, „um schnellstens von bereits vorhandenen Lösungen zu profitieren“ – und um für Investoren und Kreditgeber überhaupt interessant zu bleiben.
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