Wie sich Deutschlands Automobilindustrie in den kommenden Jahren verändern wird, lässt sich an vielen Stellen des Landes schon heute besichtigen. Beispielsweise im Saarland: Dort produziert der Zuliefer-Riese ZF in einer Fabrik mit 9000 Mitarbeitern Achtgang-Automatikgetriebe für Premium-Autos, unter anderem für BMW. Bauteile also, die künftig im Elektroauto nicht mehr gebraucht werden. Der Autobauer Ford, seit Jahren auf dem absteigenden Ast in Europa, will die Produktion in seinem saarländischen Werk 2025 beenden, 4600 Beschäftigte sind davon direkt betroffen.
Ökonomen des Münchener Ifo-Instituts haben die Entwicklung der für die deutsche Wirtschaft so zentralen Autoindustrie nun neu analysiert – und sie bestätigen eine Befürchtung, die seit Monaten kursiert: „Wir sehen momentan eine Deindustrialisierung der Autobranche, die durch den Wandel zur E-Mobilität zustande kommt“, stellen die Forscher Oliver Falck, Lisandra Flach und Christian Pfaffl fest.
Aber: „Ein Teil des Verlusts wird bereits und könnte in Zukunft noch mehr durch Batteriefertigung, Dienstleistungen im Bereich Software oder digitale Geschäftsmodelle aufgefangen werden.“ Die Angst vor der Deindustrialisierung bezieht sich also nur auf einen Teil des großen Strukturwandels, durch den die Industrie gerade geht.
„Chips sind das neue Zahnrad“
Auch das kann man im Saarland sehen: Während ZF im Saarbrücker Werk ab dem kommenden Jahr die Fertigung von Komponenten für Elektroautos hochfährt, laufen im 25 Kilometer entfernten Ensdorf die Planungen für eine Chipfabrik des US-Unternehmens Wolfspeed, an der ZF beteiligt sein wird. „Chips sind das neue Zahnrad“, sagt ZF-Chef Holger Klein. Für die benachbarte Ford-Fabrik suchen Land und Unternehmen nach einem Käufer. Sicher ist: Es werden Arbeitsplätze in der Produktion verloren gehen. An anderer Stelle entstehen aber auch neue.
Die Ifo-Forscher führen als Indiz für die Deindustrialisierung die Zahl der Beschäftigten im Bereich Verbrennertechnik an. Rund 447.000 Beschäftigte seien im Jahr 2019 in diesem Feld noch tätig gewesen. Derzeit produzieren die Unternehmen parallel Fahrzeuge mit Verbrennungs- und Elektromotoren. „Mit dem Abbau dieser Doppelstrukturen wird sich der Beschäftigungsabbau in der Fertigung in den kommenden Jahren weiter beschleunigen“, sagt Falck voraus.
Man könne nicht wegdiskutieren, dass die Montage einer E-Achse weniger Arbeitsstunden verlange als die Fertigung eines Verbrennungsmotors, sagte Mercedes-Chef Ola Källenius bei der Vorstellung seiner Konzernbilanz im Februar. „Im Powertrain-Bereich wird es eine Reduzierung in der Beschäftigung geben. Gleichzeitig ist es wichtig, dass man sich als Unternehmen um die Beschäftigten kümmert.“ Weil die Transformation über eine Zeit von mehr als einem Jahrzehnt gehe, könne man die Veränderungen „über die Demografie abfangen“. Also indem Stellen wegfallen, wenn Mitarbeiter in Rente gehen.
Der Strukturwandel hat schon längst begonnen, stellen die Ifo-Forscher fest. Seit 2013 sind in der Autoindustrie laut Zahlen der Bundesagentur für Arbeit neun Prozent der Jobs im Bereich der Fertigungsberufe verloren gegangen. Die Anzahl der Beschäftigten im IT-Bereich ist zugleich aber um knapp 49 Prozent gestiegen.
Von einem reinen Abwärtstrend kann also keine Rede sein. Das bestätigen die Bilanzen der Industrie für das vergangene Jahr. Während beispielsweise bei Volkswagen die Zahl der Mitarbeiter im Inland 2022 um knapp ein Prozent gesunken ist, stieg sie bei Bosch um zwei und bei BMW sogar um nahezu fünf Prozent.
Dazu kommen die inzwischen 10.000 neuen Mitarbeiter der Tesla-Fabrik in Brandenburg, die seit einem Jahr in Betrieb ist. Zwar fallen bei den etablierten Unternehmen Jobs weg in der Produktion und in der Verwaltung. Zugleich stellen sie aber viel neues Personal im Bereich Software und IT ein.
Porsche und BMW kündigen Personalaufbau an
Das führt bei einigen Konzernen unter dem Strich zu einem Beschäftigungsaufbau. BMW-Finanzchef Nicolas Peter kündigte auf der Bilanzpressekonferenz leicht steigende Mitarbeiterzahlen für das laufende Jahr an. Und auch bei Porsche geht es laut Finanzvorstand Lutz Meschke „in Richtung Personalerhöhung“, wegen der Investitionen im Bereich Software und Batterietechnologie. „Die Softwareentwickler der Welt sind herzlich eingeladen uns weiter zu stärken“, sagte er.
Aus einer größeren Perspektive betrachtet hängt die Zukunft der Industrie aber nicht nur vom technologischen Wandel innerhalb der Unternehmen ab. Entscheidender für das künftige Produktionsniveau deutscher Hersteller sind aus Sicht der Ifo-Forscher die globalen Verschiebungen im Wettbewerb, vor allem in Bezug auf China und die USA.
„Durch die Elektrifizierung und Digitalisierung des Automobils treten neue Marktakteure auf den Plan und erhöhen den Wettbewerbsdruck für etablierte deutsche Hersteller“, schreiben sie in ihrer Analyse. Damit sind unter anderem US-Tech-Konzerne wie Google und Amazon gemeint, die zunehmend in den Bereich Autosoftware vordringen. Und natürlich Konkurrenten wie Tesla oder die chinesischen Automobilhersteller, die mit ihren Elektroautos in den kommenden Jahren in den europäischen Markt drängen werden.
Auslöser der Deindustrialisierungs-Angst war vor allem die Energiekrise infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine. Aus Sicht der Vorsitzenden der sogenannten Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, sind diese Preiserhöhungen und Knappheiten aber „kein Grund zur Panik“.
„Tatsächlich werden die Effekte der Energiekrise auf die Industrie viel kleiner und differenzierter ausfallen als häufig dargestellt“, schreibt sie gemeinsam mit ihren Mitarbeiterinnen Sylwia Bialek und Claudia Schaffranka in der neuen Ausgabe des „Ifo Schnelldiensts“ zum Thema Deindustrialisierung. Zwar würden einzelne Wirtschaftszweige und die Fertigung einzelner Produkte infolge der veränderten Energiepreise abwandern. Das stelle aber eher eine Fortsetzung des schon andauernden strukturellen Wandels dar, als eine abrupte Deindustrialisierung.
Ähnlich bewerten das auch andere Ökonomen mit Beiträgen in dem Heft. „Der Gaspreisschock wird nicht das Ende der deutschen Industrie sein“, schreibt beispielsweise Steffen Müller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle. „Es drohen weder Massenarbeitslosigkeit noch Einkommensverluste im großen Stil.“
„Gefahr eines massiven Wohlstandsabflusses“
Schnitzer, Bialek und Schaffranka verweisen auf das Beispiel Japan, ein rohstoff- und energiearmes Land, das trotz sehr hoher Energiepreise in der Vergangenheit immer noch einen Industrieanteil von 20 Prozent an der Bruttowertschöpfung hat – ähnlich wie Deutschland. Der Verlust einzelner industrieller Aktivitäten und der damit verbundenen Arbeitsplätze „ist nicht notwendigerweise mit Wohlfahrtseinbußen verbunden“, schreiben die Forscherinnen.
Angesichts des Fachkräftemangels gehe es künftig vor allem um die Frage, wie die betroffenen Beschäftigten dort eingesetzt werden können, wo dringend Arbeitskräfte benötigt werden. Sie warnen vor falschen politischen Schlüssen: „Im Gegensatz zur Corona-Pandemie darf es in der aktuellen Krise nicht darum gehen, den Status quo zu erhalten, sondern sich auf die neuen Realitäten einzustellen und den Wandel zu unterstützen.“
Michael Hüther, Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung Köln, nimmt die Politik in die Pflicht. Es bestehe „die Gefahr eines massiven Wohlstandsabflusses ins Ausland infolge eines Verlusts industriebasierter Wertschöpfung“, warnt er, „sofern der Staat für die Transformation zur Klimaneutralität seine regulatorischen und infrastrukturellen Aufgaben nicht erfüllt“.
Zum Strukturwandel in der Autoindustrie sieht Hüther keine Alternative. Die „grüne Transformation sämtlicher Wirtschafts- und Lebensbereiche“ werde und müsse früher oder später auf der ganzen Welt stattfinden. „Anders als es bei der schöpferischen Zerstörung zu erwarten ist, sind keine neuen Sektoren oder Wirtschaftsbereiche in Sicht, die alte etablierte Branchen in Deutschland ablösen würden“, schreibt er.
Das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft bildeten weiterhin der Maschinenbau, die Metall- und Elektroindustrie, die Chemieindustrie sowie der Automobilbau. Nicht nur die Saarländer wollen diese Wirtschaftsbereiche auch in einer klimaneutralen Zukunft behalten.
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