Neueste Nachrichten und Updates

Inflation und Polarisierung: Die unheimlichen Parallelen zwischen 1923 und 2023

0 8

Geldentwertung, Hasstiraden auf politische Gegner, soziale Not und irrationale Erklärungsversuche: Wer sich mit der Weimarer Republik befasst, stößt auf mehr oder weniger krasse Ähnlichkeiten mit der heutigen Zeit. Das ist alarmierend – und dennoch gibt es auch bedeutende Unterschiede.

Wer die Aufforderung erblickt, wird sich unweigerlich an die Diskussionen des vergangenen Winters erinnert fühlen. „Die Patienten werden gebeten, infolge der Kohlennot zur Heizung des Wartezimmers bei jedem Besuch ein Brikett mitzubringen“, heißt es auf dem Schild in der Praxis eines Dr. med. Wagner. Überliefert ist der Appell durch ein Foto, das in dem Buch „Außer Kontrolle“ des Historikers Peter Longerich abgebildet ist. Es ist eines von mindestens acht Werken, die das Jahr 1923 behandeln und all die Parallelen zu unserer Zeit aufzeigen, die einen erschaudern lassen, auch wenn es gravierende Unterschiede gibt.

ANZEIGE

Außer Kontrolle: Deutschland 1923. Hyperinflation, Staatskrise, Hitler-Putsch – kenntnisreich erzählt und reich bebildert

33,00 €

Zum Angebot bei amazon.de

Der größte von allen ist wohl: Die Weimarer Republik – in der Stadt in Thüringen wurde 1919 die erste demokratische Verfassung Deutschlands ausgearbeitet – war damals vier Jahre alt. Im Gegensatz zu unserer Zeit konnte von einer gefestigten parlamentarischen Demokratie nicht die Rede sein. Die Lust, die Regierung in Berlin durch Putsch oder Staatsstreich zu stürzen, um eine gemäßigte oder knallharte Diktatur einzurichten, war weit verbreitet, nicht nur unter Extremisten, sondern auch unter Rechts- und Erzkonservativen sowie in der Wirtschaft. Die generelle Bereitschaft, Gegner zu verletzen und zu töten, war außerdem immens.

Dennoch gibt es mehr oder weniger krasse Ähnlichkeiten zwischen 2023 und 1923, die hier durch einige wenige Sätze aus Longerichs Buch verdeutlicht werden sollen. Da wäre die für Zeitgenossen „kaum durchschaubare, dynamische Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Krisenherden“, „die Abkehr der Bevölkerungsmehrheit von den demokratischen Parteien“, aber auch „die Schwierigkeiten der Regierungsbildung“, „die Spaltung der Gesellschaft in sich unversöhnlich gegenüberstehende Lager“ und „das Anwachsen des rechten und linken Extremismus mit seinen erheblichen Gewaltpotentialen“ oder auch die Suche nach Erklärungen und Lösungen, „die der Sphäre des Irrationalen zuzurechnen sind“. Wenn man das Buch liest, wird es einem schon mal angst und bange.

Die Inflation ist eine der unheimlichen Parallelen, auch wenn ihr Ausmaß damals unvorstellbare Dimensionen erreichte und der außenpolitische Hintergrund ein komplett anderer war. Frankreich hatte das Ruhrgebiet besetzt mit dem Ziel, die im Versailler Vertrag festgelegten deutschen Reparationen nach dem Ersten Weltkrieg zu erzwingen. Das führte zur extremen Verknappung der Kohle als wichtigster Energiequelle im Reich. Daraus entstand das Paradoxon, dass Deutschland den Energieträger importieren musste, während Frankreich ihn aus dem Ruhrgebiet rausholte und für sich nutzte.

Kein Vertrauen mehr in Geld

Die Aufgabe des „Ruhrkampfes“, die – bis auf zahlreiche Terrorakte – gewaltfreie Gegenwehr der deutschen Gesellschaft gegen das französische Militär, wurde nicht nur als nationale Schmach empfunden. „Die politische Niederlage war vor allem auch ein finanzpolitischer Offenbarungseid“, wie Longerich erläutert. Deutschland war – ebenfalls anders als heute – am internationalen Kapitalmarkt nicht kreditwürdig, es rutschte in die Zahlungsunfähigkeit, mit schlimmen sozialen Folgen auch für eben noch in Wohlstand Lebende.

Die Notenpresse lief auf Hochtouren. Die Inflation war so rasant, dass sich im Café der Preis eines Kaffees verdoppelt haben konnte, wenn der Kellner zum Kassieren kam. Wer Lohn und Gehalt erhielt, gab es sofort komplett aus, da der Betrag Stunden später nur noch ein Bruchteil des Nennwertes bei der Auszahlung ausmachte. „Der Verlust des Vertrauens in die Funktion des Geldes als Wertmesser zog den Verlust des Vertrauens in die bestehende politische und gesellschaftliche Ordnung nach sich“, schreibt der Historiker Volker Ullrich in seinem – ebenfalls äußert lesenswerten – Buch „Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund“. Wie Longerich setzt er auf ein atemberaubendes Erzähltempo, das zur Rasanz jenes Jahres deutscher Geschichte passt.

Ulrich wirft einen Blick auf die materiellen und psychischen Auswirkungen der Hyperinflation für den Einzelnen und das menschliche Miteinander. Nicht nur Privathaushalte, auch Unternehmen und Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge gingen bankrott. Sparguthaben, Lebensversicherungen und kapitalgedeckte Renten waren futsch. Millionen verarmten, Hunderttausenden kam das Selbstwertgefühl abhanden, mit Folgen für die Sozialmoral. Ullrich formuliert es so: „Tugenden wie Sparsamkeit, Rechtschaffenheit, Gemeinsinn verloren ihre Verbindlichkeit; Egoismus, Skrupellosigkeit, Zynismus waren Trumpf.“

Kein Gefühl für die Zukunft

Das große Kontrastprogramm zu Gewalt, Hass und Weltuntergangsstimmung bildete die Vergnügungssucht. „Da ungewiss war, was das Morgen bringen würde, lebten viele Menschen für das Heute, für den Genuss des Augenblicks“, schreibt Ullrich. Alkohol und Rauschmittel wie Kokain und Morphium waren en vogue, genauso Völlerei und andere Ausschweifungen, insbesondere sexueller Art. Die Jugend lebte im Gefühl, keine Zukunft zu haben, weshalb sie umso mehr das Jetzt und Hier genoss – bis zum Exzess. Gut ging es Ausländern mit dem „richtigen“ Geld, was ihnen Ressentiments bis hin zu offenem Rassismus einbrachte.

Wie heutige Krisen brachte 1923 zahlreiche Gewinner hervor. Nicht allein Ganoven und Devisenschieber. Das Vermögen von Grund- und Hausbesitzern bleib unberührt. Leute, die Kredite aufgenommen hatten, waren plötzlich schuldenfrei – die Beträge wurden „weg-inflationiert“. Einer der Profiteure war der machthungrige Industrielle Hugo Stinnes, der bei Longerich und Ullrich zu Recht breiten Raum einnimmt. Sein Weg offenbart die Unterschiede zu 2023: Dass sich ein skrupelloser Konzernlenker, auch noch selbst Abgeordneter im Reichstag, derartig offensiv in die Politik einmischt, wäre heute in der Brachialität nicht möglich.

Stinnes baute clever ein Firmenimperium auf, wollte Arbeiter wieder zehn statt acht Stunden schuften lassen, was die wichtigste soziale Errungenschaft der Novemberrevolution von 1918/19 revidiert hätte. Wegen des zu erwartenden Widerstands müsse „ein Diktator gefunden werden“, verlangte er. Wie mächtig der Unternehmer war, belegt eine von Longerich angeführte Aussage des Nationalökonomen Moritz Julius Bonn (1873 – 1965), wonach das Ausland glaube, „das Deutsche Reich sei ein Glied des Stinnes-Konzerns“.

Hetze und Gewalt

Thema der Bücher ist auch die Radikalisierung der Sprache, mit der die Anhänger der politischen Lager aufeinander losgingen, wie wir sie heute ebenfalls erleben. Die Hasstiraden richteten sich ebenso gegen die parlamentarische Demokratie. Zielscheibe der Schmähungen und Gewaltaufrufe waren immer wieder Juden. Über den Außenminister wurde ein Lied gesungen mit dem ätzenden Text: „Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau.“ Er war am 24. Juni 1922 von antisemitischen Terroristen ermordet worden.

Theodor Wolff, Chefredakteur des „Berliner Tageblatts“, klagte damals rechte Medien an: „Diese geistige Vorbereitung hat die Tat möglich, hat sie unvermeidlich gemacht.“ Derlei Appelle führten zu nichts – und deshalb später ins Verderben.

Ein Bürgerkrieg brach nicht aus, Putsche wie der Hitlers in München im November 1923 scheiterten. Die Rückkehr zur Normalität nach dem Ende der Krise war nur eine „Stabilitätsillusion“, wie Longerich betont. „Was 1923 nicht gelungen war, nämlich ein tragfähiges und dauerhaftes Bündnis von Rechtsextremisten und Rechtskonservativen zu bilden, bahnte sich seit 1930/1931 an und führte schließlich zu einer Nennung Hitlers zum Reichskanzler.“ Er verwirklichte die Diktatur, die 1923 noch knapp hatte verhindert werden können.

Lesen Sie hier den vollständigen Artikel.
Hinterlasse eine Antwort

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Cookies, um Ihr Erlebnis zu verbessern. Wir gehen davon aus, dass Sie damit einverstanden sind, aber Sie können sich abmelden, wenn Sie dies wünschen. Annehmen Weiterlesen

Datenschutz- und Cookie-Richtlinie