Samstag arbeitete er wieder eifrig an seiner Rückkehr. Manuel Neuer, 36, absolvierte an der Zentrale des FC Bayern sein Reha-Programm, die Mannschaftskollegen reisten derweil nach Niedersachsen, wo sie an diesem Sonntag im Bundesligaspiel gegen den VfL Wolfsburg antreten (17.30 Uhr, DAZN).
Der Torwart wird nach seinem Unterschenkelbruch frühestens im Sommer wieder spielen können. Und doch sprechen an diesem Wochenende nahezu alle in der Fußballbranche über ihn, sogar über die Grenzen Deutschlands hinaus. Im deckungsgleichen Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ und „The Athletic“ sorgte er für Aufsehen. Die Aussortierung seines langjährigen Torwarttrainers Toni Tapalovic sei „das Krasseste“ gewesen, was er in seiner Karriere erlebt habe, sagte Neuer. Im Januar hatte der Verein Tapalovic freigestellt und als Gründe Differenzen über die Art der Zusammenarbeit angegeben. „Für mich war das ein Schlag, als ich bereits am Boden lag“, sagte Neuer nun: „Ich hatte das Gefühl, mir wird mein Herz rausgerissen.“
Gerade hatten sich die Bayern sportlich gefangen, nach drei 1:1 in Folge am Mittwoch im DFB-Pokal 4:0 bei Mainz 05 gewonnen. Nach turbulenten Wochen war es endlich etwas ruhiger geworden, doch nun geht es vor dem Anpfiff in Wolfsburg wieder hoch her. Klubchef Oliver Kahn, 53, reagierte noch Freitagabend auf die Kritik, ohne vorher noch einmal mit dem Kapitän gesprochen zu haben. Was Neuer im Zusammenhang mit Tapalovic’ Freistellung gesagt habe, werde „weder ihm als Kapitän noch den Werten des FC Bayern gerecht“. Zudem kämen seine Aussagen zur Unzeit, „weil wir vor ganz wichtigen Spielen stehen“. Kahn kündigte deutliche Gespräche an, über eine Geldstrafe wird spekuliert.
Sportvorstand Hasan Salihamidzic, 46, sagte „Bild am Sonntag“: „Ich verstehe, dass Manuel persönlich betroffen ist. Aber von ihm, zumal als Kapitän, hätte ich ein anderes Verhalten erwartet.“ Und weiter: „Die Enttäuschung, die er wegen der Freistellung Tapas beschreibt, die herrscht auch bei uns, weil Manuel seine persönlichen Interessen hier über die Interessen des Klubs gestellt hat. Aber wir werden das intern vernünftig mit ihm besprechen.“ Zu möglichen finanziellen Einbußen habe es bislang kein Gespräch gegeben. Nach Neuers Unfall bei einer Urlaubs-Skitour war eine Diskussion über einen möglichen Gehaltsverzicht aufgekommen.
Rückkehr des FC Hollywood
Sky-Experte Dietmar Hamann, 49, sagte über Neuers Aussagen: „Einige dieser Zitate sind für mich schlichtweg peinlich. Da geht es um seine eigene Eitelkeit, da stellt er sich in den Vordergrund und nicht den Verein.“ Auf die Frage, ob Neuer jemals wieder für die Bayern spielen werde, antwortete Hamann: „Eher nein.“ Doch Neuer wurde schon mehrmals abgeschrieben – und kam immer wieder.
Der deutsche Fußball-Rekordmeister hat sich in diesem Jahr bislang wieder seinen Spitznamen aus einem vergangenen Jahrzehnt verdient: FC Hollywood. Tapalovic’ Freistellung, Serge Gnabrys Ausflug zur Fashion Week nach Paris inklusive Shooting-Fotos auf Instagram und nun Neuers Kritik – es herrscht Unruhe. Die Vereinsspitze hat ihren Anteil daran: Auch der Zeitpunkt der Tapalovic-Entlassung wird längst nicht von jedem rund um den Klub als glücklich angesehen.
Neuer bemängelt den zwischenmenschlichen Umgang im Verein und stellt die „Familie FC Bayern“ sowie die Grundwerte infrage, die vor allem Ehrenpräsident Uli Hoeneß, 71, wichtig sind. Er betont, er habe in all den Jahren kein schlechtes Wort über Tapalovic gehört: „Fragen Sie Pep Guardiola, Carlo Ancelotti oder Niko Kovac.“ Das klingt danach, als habe Nagelsmann mit seinem Trainerstab die Trennung zu verantworten, wie bereits spekuliert wurde.
Neuer-Aktion erinnert an Lahm
Der Torwart ließ die Interviews nicht wie üblich vor Erscheinen vom Klub autorisieren. Das Vorgehen erinnert an Philipp Lahm: Auch der kritisierte 2010 die Vereinsführung. Die Bayern verdonnerten ihn daraufhin zu einer Geldstrafe, „wie es sie in dieser Höhe beim FC Bayern München noch nicht gegeben hat“, sagte der damalige Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge.
Das Interview löste eine Debatte darüber aus, ob Führungsspieler öffentlich ihren Verein und die Einkaufspolitik kritisieren dürfen. Die Klubverantwortlichen wurden von Neuers Interviews überrascht, allerdings wohl kaum von seiner Meinung. Der Kapitän suchte in den vergangenen Wochen zunächst das persönliche Gespräch mit den Bossen, ging erst danach an die Öffentlichkeit. Kahn und Salihamidzic schafften es offenbar nicht, ihn zu besänftigen. Neuers Aussagen zeigen, welch heftiger Schlag das Ende der Zusammenarbeit mit dem Torwarttrainer im Klub für ihn war. Seine Wortwahl verdeutlicht, wie viel sich in den vergangenen Wochen bei ihm angestaut hatte.
Unter den Fans ist Neuers Vorgehen ein großes Thema. Einige loben Neuers Loyalität zu Tapalovic, der auch sein Trauzeuge ist. Andere sprechen von Undankbarkeit dem Klub gegenüber. Kahn und Salihamidzic hatten Neuer nach dessen Unfall auf einer privaten Skitour in Schutz genommen. Als Kapitän der Nationalelf und der Bayern ist Neuer der wohl mächtigste Spieler Deutschlands. Für ihn war es offenbar unabdingbar, seinen Standpunkt klarzumachen. Dass er damit vor den wegweisenden Spielen in der Champions League gegen Paris Saint-Germain für Unruhe sorgt, nimmt er in Kauf. In einer Woche steigt in Frankreichs Hauptstadt das Achtelfinal-Hinspiel.
Neuer hat auch verfolgt, wie sich der an AS Monaco verliehene Torhüter Alexander Nübel, 26, kürzlich im ZDF äußerte. Nübel hatte dort – ebenfalls ohne Absprache mit den Bayern – Tapalovic kritisiert. Dieser habe sich selten bei ihm gemeldet. Auch das war öffentliche Kritik – an einem Trainer und in gewisser Weise somit an einem Vorgesetzten. Neuer will nach dieser Saison wieder spielen. Dann könnte es bei den Bayern zum Konkurrenzkampf mit Yann Sommer, 34, kommen, in der Nationalelf mit Marc-André ter Stegen, 30, und Kevin Trapp, 32. „Der Beste wird spielen“, sagte Neuer in dem Interview, „wenn ich spielen will, muss ich der Beste sein. So war es schon immer.“
Trainer Nagelsmann unter Druck
Die Bayern wirken derzeit nicht wie eine Einheit. Mit Nagelsmann-Vorgänger Hansi Flick, 57, inzwischen Bundestrainer, hatte Neuer schon in München ein Vertrauensverhältnis. Flick hatte Tapalovic bei den Bayern zum Assistenztrainer befördert. Er wolle „professionell“ mit Nagelsmann zusammenarbeiten, sagte Neuer nun. Das klingt kühl. Doch Neuer betonte auch: „Ich schütze unser Hab und Gut und werde mich niemals querstellen. Weil ich Teamplayer bin und als Kapitän eine besondere Verantwortung habe.“
Nagelsmanns Umgang mit dem Fall Neuer ist eine der größten Herausforderungen für ihn in seiner bisherigen Trainerlaufbahn. Er steht besonders im Fokus. Dass Nagelsmann vor Kurzem zu einem Brunch mit der Mannschaft deutlich zu spät kam, weil er noch Arbeit zu erledigen hatte, registrierten die Spieler genau. Neuers drastische Worte dürften Auswirkungen auf die Zusammenarbeit mit Nagelsmann und die Stimmung in der Mannschaft haben. Der Friede in der Kabine steht auf dem Spiel, das Spannungsfeld ist enorm.
Neuers Vertrag bei den Bayern gilt bis 30. Juni 2024. Seine Aussagen an diesem Wochenende senden das Signal: Mit mir ist weiterhin zu rechnen – als Torwart und als Wortführer in der Mannschaft. „Ich bin noch da“, sagte Neuer, „auch wenn manche Menschen vielleicht das Gefühl haben, sie hätten die alten Spieler satt.“