Lennard Kämna hat sich in Windeseile vom Etappenjäger zum Rundfahrer entwickelt. Beim Giro d’Italia überrascht er auf ganzer Linie – und weckt Hoffnungen für die Tour.
Verbales Spektakel ist nicht die Sache von Lennard Kämna. Obwohl er beim Giro d’Italia seit zweieinhalb Wochen für Furore sorgt, neigt der aus der Nähe von Bremen stammende Radprofi nicht zu Euphoriebekundungen. Eher im Gegenteil.
Einmal entschuldigte er sich dafür, dass seine Darbietung auf dem Rad „ein wenig langweilig aussah“; ein anderes Mal gab er vor, gar nicht erst damit anfangen zu wollen, „Träume zu jagen, die ich selbst gar nicht habe.“ Doch entgegen derartigen Aussagen ist Kämna Spektakel gegenüber gar nicht abgeneigt – allerdings vornehmlich, wenn er im Sattel sitzt.
Vom Etappenjäger zum Rundfahrer
Denn dort hatte Offensive für ihn lange oberste Priorität. Bei der Tour de France 2020 fuhr sich Kämna dank seiner angriffslustigen Fahrweise in zahlreiche Ausreißergruppen und in die Herzen vieler Fans. Er gewann sogar eine Etappe.
Drei Jahre später hat sich der Fahrstil des 26-Jährigen vom deutschen Team Bora-hansgrohe grundlegend verändert. Vor der Saison erkundigte sich Kämna bei seinem Chef Ralph Denk, ob er es einmal mit dem Gesamtklassement bei einer großen Rundfahrt probieren könnte. Denk fand die Idee gut – und machte Kämna hinter dem Russen Alexander Wlassow zum Co-Kapitän bei der Italienrundfahrt. Ohne übermäßige Erwartungen zu schüren.
Nach Aufgabe von Teamkollege im Rampenlicht
Was sich allerdings seit dem 6. Mai ereignet, überrascht selbst langjährige Beobachter der Szene: Nachdem Wlassow krankheitsbedingt aufgeben musste, rückte Kämna beim Giro in die erste Reihe – und hat die beste deutsche Gesamtplatzierung bei einer großen Rundfahrt seit Emmanuel Buchmanns überraschendem vierten Platz bei der Tour de France 2019 fest im Blick.
„Er hinterlässt bisher einen super Eindruck. Es ist ja das erste Mal, dass er auf Gesamtwertung fährt, und man fragt sich, warum er das nicht schon früher gemacht hat“, sagt Fabian Wegmann zu t-online – und schmunzelt dabei. Wegmann ist Einer, der es wissen muss. Als Aktiver gewann er 2004 als bisher einziger Deutscher das Bergtrikot des Giro; mittlerweile organisiert er deutsche Radsport-Highlights wie die Deutschland Tour oder Eschborn–Frankfurt.
Wegmann über Kämna: „Extrem clever und zurückhaltend“
„Lennard fährt wirklich am Optimum, extrem clever und zurückhaltend – nicht so wie zuvor als Etappenjäger, als er ständig auf Attacken gegangen ist“, analysiert Wegmann: „Er hat bisher alles richtig gemacht und sein Team passt extrem gut auf, dass er gesund bleibt.“
Der Zusatz am Ende mag auf den ersten Blick naheliegend erscheinen, bei dieser Italienrundfahrt ist er allerdings von immenser Bedeutung. Zahlreiche Favoriten sind vor der drittletzten Etappe am Freitag bereits krankheitsbedingt ausgestiegen – allen voran Superstar Remco Evenepoel, der in seiner belgischen Heimat als legitimer Nachfolger von Jahrhundertfahrer Eddy Merckx gilt.
In solche Sphären wähnte sich der bodenständige Kämna zwar nie, doch auch er galt früh als außergewöhnliches Talent – zumindest in Deutschland. Kein neuer Jan Ullrich, aber immerhin einer, der in der Weltspitze irgendwann ein gehöriges Wörtchen mitreden könnte.
Nach WM- und EM-Titeln im Zeitfahren der Junioren wechselte der 1,81 Meter große Blondschopf noch als Teenager ins Profilager und heuerte beim Team Stölting an. Dort fuhr er zusammen mit Fabian Wegmann, der sich damals im Herbst seiner Profikarriere befand. Schon damals fiel Wegmann der junge Teamkollege auf: „Von den körperlichen Voraussetzungen war Kämna schon mit 20 so weit – vielleicht nicht für die Top 10, aber das Potenzial hat man da schon deutlich gesehen“, erklärt Wegmann im Hinblick auf Kämnas aktuellen Giro-Höhenflug.