Im Jahr 2023 erobert die Künstliche Intelligenz die Welt – und reißt viele Gewissheiten aus dem Fundament. Das Einzige, was dagegen hilft: Kopf in den Sand! Oder?
Aufwachen in einer Welt, die auf einmal nicht mehr die eigene ist: Sie kennen das. Die TV-Serie „Der letzte Bulle“ drehte sich um einen von Henning Baum verkörperten Polizisten, der sich nach 20 Jahren Koma als menschgewordene Lederjacke durch die verweichlichte Welt rüpeln muss. In der wirklichen Welt braucht es kein Koma – es reicht, eine Weile nicht aufzupassen und schon wachen Sie in einer fremden Welt auf. Einer, in der die „Künstliche Intelligenz“ alles besser kann als Sie.
Beispiele: Machen Sie Fotos, etwa von Essen oder Innenarchitektur? Kann die KI Midjourney besser, jedenfalls seit dieser Woche. Schreiben Sie Texte für Geld? Kann ChatGPT besser, in der Version dieser Woche erst recht (ja, die wurden beide grad aktualisiert). Sind Sie Programmierer? Die neueste Version von GPT kann sich einen gekritzelten Notizzettel „ansehen“ und daraus eine funktionierende Webseite bauen.
Oder sind Sie in der Politik? Eine Freundin steckte kürzlich bei einem „Policy Paper“ fest, also einem kleinen Aufsatz, der bei politischen Entscheidungen helfen soll. Sie nannte mir kurz das Problem, ich reichte es an ChatGPT durch und etwa zwölf Sekunden später freuten wir uns über einen passablen Vorschlag und einige Stunden gewonnener Tagesfreizeit.
Noch mehr PowerPoint
Und, liebe Unternehmensberater: Ihr werdet künftig noch mehr nutzlose, teuflisch öde PowerPoint-Vorträge produzieren, weil das jetzt die KI von Microsoft automatisch erledigt – und Google hilft wiederum dabei, im E-Mail-Verkehr ein norddeutsches „Moin, danke“ in eine geschwätzige, enthusiastische, überfreundliche Corporate-Mail an die Kollegen zu übersetzen, die dann das verlogene Gelaber wieder in ein „Moin, danke“ zurückübersetzen lassen, vor und zurück mit KI.
Nun gibt es Phasenmodelle für die Trauer und es gibt Phasenmodelle für Technologien. Letzteres könnte etwa so lauten: Ignoranz, Panik/Euphorie, Erleichterung/Enttäuschung und schließlich Akzeptanz. Viele Menschen stecken noch in Nummer eins fest, die gefühlte Hälfte ist auf Stufe zwei, also Panik oder Euphorie, je nach Einstellung. Ein Anzeichen dafür ist stets, dass der „Spiegel“ düstere Roboter auf den Titel setzt. Schließlich folgt eine längere Phase der Erleichterung oder Enttäuschung, weil die neue Technologie irgendetwas doch noch nicht perfekt kann. Schließlich, die Einsicht: KI ist gekommen um zu bleiben – sie ist nämlich kein verdammter 3D-Fernseher, den niemand jemals wollte.
Denken Sie an dieses Phasenmodell, wenn Ihnen dieser Tage jemand mit großem „Höhö“ sagt, dieses oder jenes habe ChatGPT falsch gemacht, dieser oder jener Job sei „also sicher“ – es ist Pfeifen im Walde, die KI kann alles, wenn nicht heute, dann morgen. Alles? Auch Kolumnen schreiben? Ja, auch Kolumnen schreiben. Jedenfalls wenn es schon ähnliche Kolumnen gab.
Kolumnen aus dem Computer? Klar!
Freilich: Frech sein verbieten sich die höflichen Programme selbst – derzeit. Als ich ChatGPT um eine fiese Scholz-Kolumne bitte, geht ihm das zu weit. Eine Spott-Kolumne gegen Lastenräder im Stil von Peter Wittkamp („Wittkamps Woche“, ein wirklich guter Kolumnenname) hat das Ding dann doch fabriziert. Müssen wir also nur ein paar Versionen warten, bis wir „Wochen“-Willis wie Wittkamp und Wieduwilt ins Grundeinkommen schicken können? Ja – jedenfalls, wenn die Willis keine neuen Einfälle mehr haben. Denn die KI reproduziert Klischees, die sie in der Welt findet. Sie ist ein teurer, ungerechter Bullshit-Automat – so klingt es, etwas düster, beim Essayisten Jürgen Geuter.
Es ist, wie es ist. Man würde nun hoffen, dass wenigstens die Bildungspolitik begeistert in die Hände klatschte: Immerhin fehlen Lehrer, zumal gute. ChatGPT und Co. können alles erklären, alles vereinfachen, Beispiele liefern, in die kompliziertesten Fächer vordringen und so womöglich Bildung für alle gerechter machen. Ich selbst habe mir kürzlich sämtliche Formen des Cloud-Computings am Beispiel von Kaffee erklären lassen. Weil ich die meisten Dinge nur verstehe, wenn man sie mir mit Nahrungsmitteln nachbaut.
Bisher dominiert jedoch der Abwehrkampf: Die Sorge vor Mogelei. Die ist berechtigt, denn ChatGPT kann seit einer Woche juristische Abschlüsse mit Top-Punktzahl bestehen. Dennoch hoffe ich, dass der Bundestag bei seiner geplanten Technikfolgenabschätzung nicht in den üblichen deutschen Modus verfällt: Augen zuhalten und bibbern.
Hilfe gegen die KI-Angst
Was hilft gegen die KI-Angst? Ich habe, klar, ChatGPT gefragt und die Antwort erhalten, die man erwarten würde:
„Es tut mir leid, dass Sie Angst vor Large Language Modellen wie ChatGPT haben. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass ChatGPT ein Computerprogramm ist und keine echte Person oder Entität. Es kann nur das tun, was es programmiert wurde zu tun und hat keine eigenen Gedanken oder Absichten.“
Das klingt ein bisschen wie der Supercomputer HAL 9000, der in „2001: Odyssee im Weltraum“ eine „Beruhigungstablette“ empfiehlt.
„Wenn Sie immer noch Angst haben, gibt es einige Schritte, die Sie unternehmen können:
Informieren Sie sich über ChatGPT und wie es funktioniert. Auf diese Weise können Sie besser verstehen, was es kann und was nicht.“
Auch das ist: ein Spiegel der Wirklichkeit, keine neue Idee von ChatGPT. Bei Ängsten: Lernen. Auch die anderen Ratschläge sind allenfalls Fortgesponnenes aus dem vorhandenen Ozean des menschlichen Wissens. ChatGPT rät dazu, die Interaktion mit KI zu begrenzen, womöglich Pausen einzulegen oder, huch, einen Therapeuten aufzusuchen:
„Ein Therapeut kann Ihnen helfen, Ihre Angst vor ChatGPT oder anderen Technologien zu bewältigen.“
Ich sage: Die Dose hat Recht, jedenfalls in ihrem ersten Punkt! Wir müssen lernen. Sich mit ChatGPT zu unterhalten, ist wie Autofahren und Googeln lernen – eine lebenswichtige Zivilisationstechnik.
Zwei Anführungszeichen gegen acht Menschenleben
Wer Alltagstechnologie nicht mehr versteht, riskiert Menschenleben. Das zeigte auf tragische und zugleich banale Weise der Amoklauf in Hamburg. Er hätte womöglich verhindert werden können, wenn die Behörden richtig gegoogelt hätten, schrieb kürzlich der „Spiegel“. Die Ermittler hatten nämlich keine Anführungszeichen verwendet, sonst wären sie auf das irre Buch des Täters gestoßen.
Selbstverständlich kann die KI auch selbst Schaden anrichten – und wird es auch. ChatGPT und seine Geschwister sollen zwar keine Anleitungen zu Bombenbau und Hacken ausspucken, aber tatsächlich lässt sich die KI derzeit recht einfach austricksen und dann serviert sie offenbar alles, was man möchte. Aber auch das ist ein guter Grund, hin- statt wegzuschauen. Es wäre schön, wenn nicht nur Kriminelle und Hacker, sondern auch Behörden wüssten, wie man bei ChatGPT die Sicherungen umgeht.
Wer sich jetzt nicht mit ChatGPT und seinen irren Geschwistern auseinandersetzt, läuft bald als „letzter Bulle“ durch die moderne Welt: Ein bisschen vertrottelt, aus der Zeit gefallen und eine Weile profitiert man vom Charme, den alles Rustikale umweht. Aber lieber als der „letzte Bulle“ wäre mir der erste Polizist, der mit ChatGPT einen Mord verhindert.