Kurz nach dem Besuch des ukrainischen Präsidenten empfängt das Königreich Russlands Innenminister. Das sagt viel über Riads neuen politischen Kurs aus – und über das neue Selbstbewusstsein. Die USA können nur noch zuschauen.
Am Montagabend landete die Maschine des russischen Innenministers Wladimir Kolokolzew in Riad. Sein saudi-arabischer Amtskollege Prinz Abdulaziz bin Saud und dessen Stellvertreter warteten schon zur Begrüßung am Flughafen. Am nächsten Tag folgten Gespräche in freundlicher Atmosphäre. Ein ganz normaler russischer Staatsbesuch in Saudi-Arabien? Nicht ganz.
Der 62-jährige Kolokolzew ist für die Unterdrückung unabhängiger Medien in Russland bekannt und ließ sämtliche Demonstrationen gegen den russischen Angriffskrieg brutal niedergeschlagen. Seit 2018 steht der Innenminister auf der Sanktionsliste der USA wegen Russlands Militärintervention in Syrien. Mit Beginn des Ukraine-Kriegs verhängten auch Australien, Kanada, die Europäische Union, Japan, Neuseeland und Großbritannien Sanktionen gegen Kolokolzew. Aber Saudi-Arabien kümmert dies offensichtlich wenig, obwohl man weiß, dass dies beim langjährigen Verbündeten Amerika und dem lukrativen Geschäftspartner Europa für tiefes Stirnrunzeln sorgt.
Saudi-Arabien hat ein neues Selbstverständnis und stellt eigene Befindlichkeiten in den Fokus, statt die des Westens. Dies hat das Königreich bereits auf dem Gipfeltreffen der Arabischen Liga nachdrücklich demonstriert. Die 21 Mitgliedsländer hießen nach 12 Jahren Ausschluss den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad wieder willkommen.
Eine Entscheidung, die ebenfalls die USA und Europa brüskierte. Für den Diktator und Kriegsverbrecher war es eine Genugtuung, denn sonst wird er von der internationalen Staatengemeinschaft fast wie die Pest gemieden. Aber um Gefühle oder auch Moral geht es bei dem saudi-arabischen Kurswechsel nicht.
Die Wiederaufnahme Syriens, einem der treuesten Verbündeten Russlands, war nur ein lautes Signal. Premierminister und Kronprinz Mohammed bin Salman al-Saud (MSB) hatte zum Treffen auch den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj eingeladen und herzlich empfangen. Er bekam das Podium, um für die Ukraine im Verteidigungskrieg gegen Moskau zu werben und konnte sogar Kritik an den im Konflikt neutralen arabischen Staaten üben. Im Februar hatte Selenskyj bereits eine Zusage Riads über humanitäre Hilfe im Wert von 100 Millionen Dollar und für Erdölprodukte im Wert von 300 Dollar bekommen.
Riad tanzt auf allen Hochzeiten, könnte man sagen. Aber diese scheinbaren Widersprüche sind vielmehr Indizien für Saudi-Arabiens neue außenpolitische Pragmatik zur Durchsetzung nationaler sowie regionaler Interessen. Kurzum: Es geht um eine neue Führungsrolle und Ordnungsgefüge im Mittleren Osten. Der Kronprinz, der als faktischer Herrscher von Saudi-Arabien gilt, hatte dies schon 2022 angedeutet.
„Das Königreich Saudi-Arabien wird in fünf Jahren ganz anders aussehen“, sagte er damals auf einem großen Investitionsforum in Riad. Er ist die treibende Kraft hinter Riads Vision 2030, einem Plan für wirtschaftliche und soziale Reformen. Jedoch hat der heute 37-Jährige nicht nur ehrgeizige Projekte wie futuristische Megastädte im Kopf, sondern auch große außenpolitische Ziele. „Ich glaube, das neue Europa ist der Nahe Osten“, erklärte der saudische Herrscher. „Und wenn wir Erfolg haben, werden andere Länder sich uns anschließen.“
Es sind vor allen Dingen die Vereinigten Arabischen Emirate, die mit Saudi-Arabien die Politik im Mittleren Osten bestimmen wollen. Gemeinsam treiben sie „die Konsolidierung dessen voran, was man nur als neue regionale Sicherheitsarchitektur bezeichnen kann“, schreibt das renommierte Brookings Institute aus Washington. Es sei „ein neuer Rahmen für den Umgang mit Rivalitäten, der vielleicht die bedeutendste Veränderung der regionalen Dynamik seit der US-Invasion im Irak darstellt.“
Bisher war das Verhältnis der Länder des Mittleren Ostens durch ideologische, religiöse und politische Grabenkämpfe gekennzeichnet. Eine lange Liste von Konflikten erschütterte die Region. Dazu zählten etwa die Rivalität zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, zwischen Katar und dem Golfkooperationsrat, außerdem die Bürgerkriege in Libyen und im Jemen. Und dann war da noch das gespannte Verhältnis der arabischen Staaten zur Türkei und insbesondere zu Israel. Diese teilweise langjährigen und hartnäckigen regionale Diskrepanzen sind heute lange nicht beigelegt. Aber es fand eine Deeskalation statt.
So beschlossen Saudi-Arabien und der Iran im März überraschend ihre Beziehungen zu normalisieren. Diese Annäherung beider Staaten ermöglichte den Weg für die bisher längste Waffenruhe im jahrzehntelangen Bürgerkrieg im Jemen. Saudi-Arabien versöhnte sich auch mit der Türkei und unterschrieb Abkommen über umfangreiche Wirtschaftsprojekte. Das Verhältnis zwischen Riad und Ankara war durch die Ermordung des Dissidenten Jamal Khashoggi schwer beschädigt gewesen. Der Journalist war im saudischen Konsulat in Istanbul getötet worden.
Und dann gab es noch den historischen Abraham Akkord, in dessen Rahmen vier arabische Staaten – die Vereinigten Arabischen Emirate, Marokko, Bahrain und der Sudan – die Beziehungen zu Israel normalisierten. Saudi-Arabien ist nach eigenen Angaben noch nicht so weit, um mit Israel Frieden zu schließen. Aber das Verhältnis zum jüdischen Staat hat sich trotzdem wesentlich verbessert und entspannt. Das US-Magazin „Axios“ meldete kürzlich, die Biden-Regierung wolle womöglich noch in diesem Jahr versuchen, Saudis und Israelis zu einem Abkommen zu bewegen.
Saudi-Arabien hat seine Chance erkannt, auf Dauer eine integrative Führungsrolle einzunehmen. Riad nutzt die geopolitischen Veränderungen. Dazu gehört der schwindende Einfluss der USA im Nahen Osten und auch ein durch den Ukraine-Krieg geschwächtes Russland. Die Welt verwandelt sich zunehmend in eine multipolare internationale Ordnung, die nicht mehr von einem antagonistischen Verhältnis zweier Mächte wie einst im Kalten Krieg geprägt ist. So ist etwa die Türkei in den vergangenen zehn Jahren zu einer Regionalmacht avanciert. Ein Aufstieg, den Saudi-Arabien im Mittleren Osten nachahmen möchte. Das finanzstarke und erdölreiche Powerhouse will nun selbst Friedensschlüsse, Allianzen und Entscheidungen in der Region nicht mehr anderen überlassen, sondern selbst oder mit anderen Golfstaaten gestalten.