Westliche Kampfjets schienen für die Ukraine tabu, obwohl die Regierung in Kiew sie seit dem ersten Tag des Krieges forderte. Ein häufiges Gegenargument aus dem Westen: Eskalationsgefahr auf Seiten Putins. Nun geht es plötzlich doch, ukrainische Soldaten werden an F-16 ausgebildet, die Flieger sollen auch kommen. Dazu britische und französische Marschflugkörper. Sicherheitsexperte Frank Sauer über die Möglichkeiten, die diese Waffen der Ukraine eröffnen, und ihre Grenzen.
ntv.de: Beim G7-Gipfel vor einigen Tagen trug sich folgendes zu: Ein Reporter sagte zu US-Präsident Biden, die Russen hätten erklärt, es sei ein „kolossales Risiko“, der Ukraine F-16 zu liefern. Joe Biden daraufhin: „Das ist es. Für sie.“ Ziemlich trockener Humor für einen Schritt, vor dem man 15 Monate zurückgeschreckt ist.
Frank Sauer: Bei Bidens Aussage habe ich kurz die Luft zwischen den Zähnen eingezogen. Der Spruch ist cool, aber angesichts des Ernsts der Lage auch grenzwertig. Die Tragweite solcher Entscheidungen wie über F-16, Storm Shadow oder auch das jüngste deutsche Waffenpaket, die muss man eigentlich so spielen, wie es Biden und das Weiße Haus bisher vorbildlich getan haben: in den Taten entschlossen, in der Rhetorik nüchtern.
Der Sicherheitsexperte Phillips O’Brien vermutet hinter der Kampfjet-Kehrtwende, dass Washington womöglich die Gefahrenlage mit Blick auf Putins nukleares Eskalationspotential inzwischen anders einschätzt. Eigentlich so, dass ein nukleares Risiko nicht mehr existiere. Kann man das so sehen?
Für uns alle wäre das sehr gut, darum hoffe ich zumindest, dass es so ist. Aber Hoffen ist nicht Wissen. Und für meinen Geschmack ist das zu viel Spekulation. Mir ist kein konkreter weiterer Anhaltspunkt bekannt, an dem ich so eine Schlussfolgerung mit Blick auf das nukleare Risiko festmachen könnte – ergo kann ich sie anders als O’Brien nicht ziehen. Zumindest aber ist deutlich geworden, dass die Biden-Administration, die in der Frage lange gespalten war, sich nun für eine Haltung entschieden hat. Solche Lagen sind komplex und niemand ist nur „Taube“ oder nur „Falke“, aber wenn wir es zur Vereinfachung mal an Personen festmachen wollen, dann gab es bislang das Lager Milley und das Lager Blinken. Und mit der F-16 hat sich letzteres durchgesetzt.
Frank Sauer forscht an der Universität der Bundeswehr in München und ist Experte für Sicherheitspolitik, über die er regelmäßig im Podcast „Sicherheitshalber“ diskutiert.
Also US-Generalstabschef Mark Milley auf der einen Seite, versus die Position von Außenminister Antony Blinken.
Der Militär Milley brachte ja schon im vergangenen Jahr ein vermehrtes Drängen auf Verhandlungen ins Spiel. Er argumentierte damals, die Ukraine solle ihre Gewinne nach den Offensiven in Kharkiv und Kherson am Verhandlungstisch zementieren. Der Diplomat Blinken hingegen argumentierte, dass man der Ukraine zunächst noch helfen müsse, weitere Gebiete zu befreien und auf dem Gefechtsfeld andere Verhältnisse herzustellen, bevor man erwarten könne, dass ernsthaft verhandelt wird.
Jake Sullivan, Bidens Sicherheitsberater, gehörte bislang auch zum skeptischen Flügel. Bei CNN sagte er nun, die Ukraine sei ohne weiteres fähig, mit US-Waffen die Krim zu attackieren. Eine solche Aussage hat man von ihm noch nicht gehört, oder?
Der Ton ist in der Tat neu. Mit den Aussagen von Jake Sullivan und der Entscheidung zu den F-16 entsteht der Eindruck, dass sich die beherztere Fraktion im Weißen Haus – zumindest gegenwärtig – durchgesetzt hat. Aber nochmal ein Satz zu Bidens F-16-Spruch: Er stimmt nicht mal.
F-16 seien für Russland ein kolossales Risiko? Das stimmt nicht?
Das Einsatzspektrum der F-16 in der Ukraine ist – zumindest in der jetzigen Situation – notgedrungen begrenzt. Es gilt wie immer: Die F-16 ist natürlich nicht „der Game Changer“. Sie wird den Ukrainern sehr, sehr nützlich sein, aber natürlich nicht von heute auf morgen die Luftüberlegenheit bringen. Die F-16 ist zwar kein veraltetes, aber ein durchaus älteres Mehrzweck-Kampfflugzeug. Es gibt sie in zahlreichen Varianten, aber man kann grundlegend festhalten: Sie hat nur geringe Stealth Eigenschaften, ihr Radarquerschnitt ist nicht drastisch geringer als der der MiG 29. Daraus folgt zwangsläufig, dass die Ukrainer auch mit der F-16 die russische Flugabwehr fürchten müssen.
Das heißt, sie ist für den Gegner leicht zu orten?
Darum werden die ukrainischen Piloten weiterhin sehr tief fliegen müssen und extrem vorsichtig, um nicht in Reichweite der russischen Flugabwehr zu geraten. Denn die bleibt eine Gefahr für die ukrainische Luftwaffe, ebenso wie russische Kampfjets mit deren weit reichenden R-37-Luft-Luft-Raketen. Das alles begrenzt die Ukraine in ihren Möglichkeiten, auch mit der F-16. Man darf sich das also nicht vorstellen wie bei Top Gun im Kino. Die Dinge passieren auf große Distanzen. Es gewinnt eben, wer das bessere Radar und die weiter reichenden Raketen hat.
Wo aber spielt die F-16 dann ihre Stärken aus?
Mit ihr kommt nun ein westliches Modell in die Ukraine, und das ist gut und richtig, denn die Zeit der sowjetischen Waffen ist dort vorbei. Und gegen russische Marschflugkörper oder als Plattform für ukrainische Marschflugkörper wird sie sehr wertvoll sein. Aber die Vorstellungen, mit der F-16 käme die Ukraine nun schlagartig einen gigantischen Schritt nach vorn, oder aber, die Lieferung des Jets bringe Putin bestimmt zum Eskalieren, die sind beide fernab der Realität. Storm Shadow und SCALP sind eigentlich bedeutsamer als die F-16.
Es ist relevanter, dass die Briten und die Franzosen der Ukraine Marschflugkörper liefern, als dass sie F-16 Kampfjets bekommt?
Ja. Wenn wir den größeren Rahmen betrachten und zu den F-16 auch die Waffenlieferungen aus Europa mit einbeziehen, also das angekündigte deutsche Paket unter anderem mit 15 Gepards und eben insbesondere Großbritanniens Storm Shadow und Frankreichs SCALP, dann ist hier von Seiten des Westens eine wirklich bedeutsame Entscheidung gefallen. Und vor allem die Cruise Missiles werden aufgrund ihrer Reichweite die ukrainischen militärischen Fähigkeiten deutlich erweitern.
Über 400 Kilometer weit reicht die Storm Shadow, besitzt einen eigenen Antrieb und kann sich auch selbst ins Ziel lenken.
Durch den Kampfjet F-16 einerseits und die Marschflugkörper andererseits hat man auf beiden Seiten des Atlantiks entschieden, Putin mit diesen Waffen ein Signal zu senden, nach meiner Auffassung ein deutliches und richtiges Signal.
Und wie sollte der russische Präsident das möglichst verstehen?
Ich glaube, Putin geht weiterhin davon aus, dass er den längeren Atem hat, und dass ihm dieses Durchhaltevermögen am Ende in die Hände spielen wird. Das Signal des Westens, die Ukraine mit Waffen auszustatten, die bis auf die Krim wirken können, das sagt sehr klar: „Wir im Westen sind entschlossen, unsere Unterstützung sowohl durchzuhalten als auch auszubauen.“ Und zum jetzigen Zeitpunkt, während alle Welt auf die ukrainische Offensive wartet, ist das genau das richtige Signal an den Kreml.
Diskutiert wird im Westen seit Beginn des Kriegs, welche Waffen Putin eskalieren lassen könnten. Hätte eine kraftvolle Botschaft wie diese auch Potential, das Gegenteil zu erreichen? Dass Putin deeskaliert?
Das mit dem einen Waffensystem, das zur Eskalation führt, das war über weite Strecken ein westliches Selbstgespräch. Rein hypothetisch wäre es natürlich gut, eine Verständigung mit dem Kreml über Grenzen und Risikobegrenzungen in der Kriegsführung zu erreichen, indem man ankündigt: „Passt auf, wir geben der Ukraine einfach alles an Raketen, was ihr gegen sie einsetzt. Wenn ihr aber auf bestimmte Typen verzichtet, liefern wir sie auch nicht.“ Aber da sehe ich bei Putin keine Chance. Dann darf man sich aber eben aus russischer Sicht auch nicht über westliche Marschflugkörper wie Storm Shadow beschweren, wenn man selbst die ganze Zeit Marschflugkörper auf die Ukraine schießt. Und Kurzstreckenraketen. Und Mittelstreckenraketen. Und Einwegdrohnen.
Und das alles auf die Zivilbevölkerung.
In diesem fortlaufenden, asymmetrischen Terror schießt Russland ja mit wirklich allem, was es hat, und wirft dann noch ein Waschbecken hinterher. Anschließend beschwert sich der Kreml dann, wenn die Ukraine Waffensysteme mit vergleichbaren Fähigkeiten in einigen Bereichen vom Westen erhält. Vor diesem Hintergrund ist es genau das richtige Signal in Richtung Moskau zu sagen: „Wir akzeptieren diese Asymmetrie nicht und sind entschlossen, der Ukraine immer mehr und auch dauerhaft die Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, die sie braucht, um euch zu schlagen.“
Sehen Sie in diesen Entscheidungen eine Überzeugung des Westens, dass man die Waffenlieferungen nicht mehr länger so limitieren kann, dass die Ukraine lediglich nicht verliert, sondern dass er sie befähigen muss, den Krieg wirklich zu gewinnen? Damit es nicht in einen langen Patt läuft, in dessen Verlauf 2024 dann ein republikanischer Präsident den Hahn zudreht?
Sowohl mit Blick auf die Rhetorik als auch auf diese jüngsten Zusagen über Waffen habe ich den Eindruck, der Westen ist einige entschiedene Schritte weiter in Richtung der Überzeugung gegangen, „Wir wollen, dass die Ukraine militärisch die Oberhand gewinnt und sie auch behält, um in einer starken Verhandlungsposition zu sein.“ Für mich war von Anfang an entscheidend, dass der Westen die richtige Mischung aus Entschlossenheit und Besonnenheit findet. Das aktuelle Mehr an Entschlossenheit halte ich für richtig und vertretbar. Zum Vermeiden eines „langen Patt“ passt, dass selbst der französische Präsident Macron diese Woche der Idee eines „Einfrieren des Konflikts“ eine Absage erteilt hat, und dass auch Kanzler Scholz diese entschlossenere Haltung vermehrt ausstrahlt.
Bedeutet das ein Ende von „Boiling the frog“, also dem betont langsamen Aufwuchs an Waffen für die Ukraine, damit Putin sich nicht zu bedroht fühlt und in Panik die Atombombe zündet?
An „Boiling the frog“ als Strategie habe ich nie geglaubt. Es erschien mir immer eine sehr bequeme Erklärung, mit der man jedwedes politische Gewürge in der Rückschau als clevere, von langer Hand geplante Strategie verkaufen kann. Das Memo aus dem Weißen Haus, in dem drinsteht, „Wir starten jetzt die vereinbarte ‘Boiling the frog“-Strategie, das möchte ich gerne mal sehen, wenn in 30 Jahren die Archive zugänglich sind. Für mich hat die Reaktion auf die russische Invasion in westlichen Hauptstädten von Anfang an viel zu organisch chaotisch gewirkt, als dass dahinter eine über Monate systematisch verfolgte Strategie hätte stecken können. Bitte nicht falsch verstehen: das ist natürlich gut so. Demokratische Regierungen sind eben kein Monolith, und auch in der Bevölkerung herrschten und herrschen ja verschiedene Auffassungen. So bleibt uns Demokratien eben nur Debattieren und Durchwursteln – was natürlich einer Diktatur nicht nur vorzuziehen, sondern dieser auch überlegen ist.
Mit Frank Sauer sprach Frauke Niemeyer