Nachdem der russische Raketenbeschuss auf die ukrainische Energieinfrastruktur für flächendeckende Stromausfälle gesorgt hat, blickt Kiew mit Sorge auf den Winter. Die Regierung fordert nun die Möglichkeit, Raketenabschussbasen auf russischem Territorium ausschalten zu können.
Angesichts der schweren Zerstörung kritischer Infrastruktur nach den russischen Raketenangriffen auf Kiew fordert die ukrainische Regierung eine härtere Gangart des Westens gegenüber Russland. „Es müssen jetzt Waffen geliefert werden, die auch ein Bedrohungspotenzial für Putin haben“, hieß es aus ukrainischen Regierungskreisen gegenüber WELT.
So benötige Kiew Raketen mit größerer Reichweite, die auch Abschussbasen und Munitionslager auf russischem Territorium ausschalten können. „Die Möglichkeit eines solchen Gegenschlags unsererseits würde in Moskau als Abschreckung verstanden werden.“
Das russische Militär hatte am Mittwoch nach Angaben Kiews etwa 70 Raketen und Drohnen auf die Ukraine abgeschossen. Es wurde landesweit Luftalarm ausgelöst, in Kiew gab es mehrere Explosionen. Infolge des Bombardements auf die Energieinfrastruktur gab es in der Region Kiew einen kompletten Stromausfall, drei AKWs wurden abgestellt. In der Hauptstadt fielen die Temperaturen in der Nacht unter null Grad Celsius, es liegt bereits Schnee und die Straßen sind vereist.
Einen Tag später waren immer noch mehr als zwei Drittel der Hauptstadt Kiew ohne Strom. Die Wasserversorgung konnte am Donnerstagmittag wiederhergestellt werden. Das Ausmaß der Notlage werde im Westen noch nicht verstanden, ist aus ukrainischen Regierungskreisen zu hören. „Bislang können wir zerstörte Energieinfrastruktur recht schnell reparieren und die Versorgung binnen Tagen wiederherstellen. Doch das wird nicht mehr lange der Fall sein.“
Befürchtet wird ein Mangel an Ersatzteilen. Die ukrainische Regierung rechnet im Dezember deshalb mit längeren Ausfällen, bei denen ein Überleben in Kiew „nicht möglich“ sein werde. Auch der Bürgermeister der Hauptstadt, Vitali Klitschko, warnte vor den kommenden Wochen. „Das ist der schlimmste Winter seit dem Zweiten Weltkrieg“, sagte er der „Bild“-Zeitung.
Strategie der Erpressung
In Kiew vermutet man eine klare Strategie des Kremls hinter diesem Vorgehen. „Die Russen wollen uns zu Verhandlungen zwingen, indem sie unsere Bevölkerung mürbe machen und mithilfe einer neuen Flüchtlingswelle die Europäer unter Druck setzen“, hieß es weiter aus Regierungskreisen in Kiew. Während einer Kriegspause würden dann die Vorbereitungen für einen neuen Angriff auf die Hauptstadt getroffen: „Putin hat sein Kriegsziel der kompletten Beherrschung der Ukraine noch nicht aufgegeben.“ Um sich dem widersetzen zu können, brauche das Land dringend weitere Flugabwehrsysteme.
Der polnische Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak schlug am Mittwoch vor, dass Deutschland das Flugabwehrsystem Patriot an die Ukraine und nicht an sein Land liefern solle. Nach einem Raketeneinschlag im polnischen Grenzgebiet zur Ukraine hatte die Bundesregierung Anfang der Woche angeboten, den Nato-Partner Polen mit dem Raketenabwehrsystem des Typs Patriot zu unterstützen. „Nach neuen russischen Raketenangriffen habe ich die deutsche Seite gebeten, die Polen angebotene Patriot-Batterie der Ukraine zu übermitteln und sie an der Westgrenze aufzustellen“, erklärte Blaszczak auf Twitter.
So werde die Ukraine vor neuen Verlusten und Stromausfällen geschützt und die Sicherheit der gemeinsamen Grenze verstärkt. Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) reagierte darauf am Donnerstag verhalten. „Die Patriot-Systeme sind Bestandteil der integrierten Luftverteidigung der Nato. Sie sind also für das Bündnisgebiet vorgesehen. Und wenn sie außerhalb der Nato eingesetzt werden sollen, muss das vorher mit den Alliierten besprochen werden.“
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief den UN-Sicherheitsrat auf, wegen des Bombardements der Energieinfrastruktur gegen Russland vorzugehen. „Das ist die russische Formel für Terror“, sagte er in einer Videobotschaft. „Wenn wir Temperaturen unter null Grad haben und Millionen von Menschen ohne Energieversorgung, ohne Heizung und ohne Wasser sind, ist das ein offenkundiges Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“
Mit Blick auf ein zu erwartendes russisches Veto dagegen sagte er, es sei unsinnig, dass der Partei, die diesen Krieg führe – „diesen verbrecherischen Krieg“ – das Vetorecht eingeräumt werde. „Die Ermordung von Zivilisten, die Zerstörung von ziviler Infrastruktur sind Terrortaten“, erklärte er vor der Sitzung auf Twitter. Die internationale Staatengemeinschaft müsse darauf eine „entschlossene Antwort“ geben.