Für Kemal Kılıçdaroğlu ist es die Chance seines Lebens. Er liegt in den Umfragen deutlich vor Recep Tayyip Erdoğan. Steht die Türkei vor einem epochalen Machtwechsel?
Er wirkt sanft, fast schon ein wenig schüchtern. Doch nun steht Kemal Kılıçdaroğlu vor der Aufgabe seines Lebens: Er fordert bei der türkischen Präsidentschaftswahl Recep Tayyip Erdoğan heraus – den starken, lauten Mann an der Spitze der Regierungspartei AKP. Es wird ein Duell der Gegensätze werden.
Kılıçdaroğlu gilt als Anti-Erdoğan. Seine Anhänger nennen ihn den „Gandhi Kemal“ oder den „türkischen Gandhi“. Vor allem deshalb, weil er 2017 einen Gerechtigkeitsmarsch von Ankara nach Istanbul – rund 400 Kilometer – mit einer stetig wachsenden Zahl von Anhängern zu Fuß zurücklegte. Während Erdoğan für seinen eigenen Machterhalt die türkische Gesellschaft immer tiefer gespalten hat, ist der Vorsitzende der kemalistischen CHP dafür bekannt, Kompromisse zu suchen. Erdoğan poltert, Kılıçdaroğlu pflückt Blumen.
Wer ist dieser Mann? Und kann er als Herausforderer mit diesem Kurs wirklich erfolgreich sein und Erdoğan ablösen?
Zumindest hat Kılıçdaroğlu bei der Präsidentschaftswahl am 14. Mai größere Chancen als alle anderen CHP-Kandidaten in den vergangenen Jahrzehnten vor ihm. Erdoğan steht zurzeit heftig in der Kritik, aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise in der Türkei und seines Krisenmanagements nach dem verheerenden Erdbeben. Fest steht: Erdoğans Schwäche ist momentan die größte Stärke von Kılıçdaroğlu.
Kampf gegen das Verlierer-Image
Für Kılıçdaroğlu geht es im Wahlkampf nun zunächst darum, das Image des ewigen Verlierers loszuwerden und sich als ernsthafte Alternative zum AKP-Chef zu inszenieren. Selbstverständlich ist das nicht. Erdoğan ist seit 20 Jahren an der Macht, in der Türkei leben ganze Generationen, die nur mit ihm als politischem Oberhaupt aufgewachsen sind. Für viele seiner Anhänger gilt der Langzeitpräsident – trotz einer Inflation von über 50 Prozent – immer noch als Wegbereiter des wirtschaftlichen Aufschwungs der Türkei.
Kılıçdaroğlu dagegen ist seit über 13 Jahren Chef der Republikanischen Volkspartei (CHP), die aus deutscher Perspektive am ehesten mit den Sozialdemokraten zu vergleichen ist, nur mit sehr viel mehr Patriotismus. Er trat 2009 bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul an, er verlor. Danach folgten viele Jahre der Niederlagen der CHP-Kandidaten gegen Erdoğan und dessen AKP. Immerhin: Kılıçdaroğlu konnte sich in dieser Zeit an der Parteispitze halten, keine Selbstverständlichkeit.
Erst im Jahr 2019 wendete sich das Blatt für die Opposition im Land. Kılıçdaroğlu stellte zwei bis dahin unbekannte Bürgermeisterkandidaten in Istanbul und Ankara für die CHP auf. Ekrem Imamoğlu und Mansur Yava – beide gewannen gegen die Kandidaten der AKP. Eine schwere Niederlage für Erdoğan und eine Chance für Kılıçdaroğlu, sich für die Präsidentschaftswahl 2023 in Stellung zu bringen.
Zu links, zu sanft, zu erfolglos
Trotzdem haben in der Türkei in den letzten Jahren nicht unbedingt viele Menschen mit Kılıçdaroğlu als Kandidat gerechnet. Er hat bisher keine Wahl gewonnen, seine Kritiker hielten ihn für zu links und zu weich, um gegen Erdoğan zu gewinnen. Außerdem gehört er der religiösen Minderheit der Aleviten an, die von konservativen Sunniten und von Nationalisten misstrauisch beäugt werden. Es gibt viel, was gegen ihn spräche.
Immerhin hatte die CHP auch zwei erfolgreiche Bürgermeister als mögliche Kandidaten. Doch Imamoğlu wurde in einem politisch motivierten Prozess zu einem Politikverbot verurteilt und Yava hätte sein Bürgermeisteramt an die AKP abgeben müssen. Kılıçdaroğlu griff daraufhin zu.