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Gewalttaten von jungen Mädchen: „Machtausübung, um eigene Ohnmacht abzuwehren“

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Junge Mädchen töten eine gleichaltrige Freundin, 13-Jährige misshandeln einen Teenager. Diese Gewaltausbrüche scheinen unerklärlich. Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Inés Brock-Harder sieht sie jedoch als Auswüchse einer Entwicklung, die sich für Heranwachsende in der Corona-Pandemie fatal verstärkt hat.

ntv.de: Nach der Gewalttat in Freudenberg und dem Fall in Heide, bei denen junge Mädchen massiv Gewalt ausgeübt haben, stellt sich die Frage, wie sich diese Taten erklären lassen. Haben Sie darauf eine Antwort?

Inés Brock-Harder: Die gibt es auf jeden Fall, auf verschiedenen Ebenen. Wir beobachten, dass Mädchen sich gleichberechtigt und den Jungen nicht mehr unterlegen fühlen wollen. Und dass sie deshalb Verhaltensmuster von Jungen kopieren. Was dazu führt, dass sie nun auch im Zusammenhang mit aggressiven Gewalttaten in Erscheinung treten. Unabhängig vom Geschlecht der Kinder gibt es auch vermehrt Fälle von Gruppengewalt. In meiner Heimatstadt Halle rotten sich seit etwa einem Jahr Jungen in Banden zusammen, um andere Jugendliche abzuzocken. Das ist ein Fall von Machtausübung, die eben dazu dient – und da werde ich jetzt psychologisch – die eigene Ohnmacht abzuwehren.

Woher könnte diese Ohnmacht kommen?

Viele Kinder und Jugendliche haben sich in der Corona-Zeit total abgeschnitten und ausgeliefert gefühlt. Wir wissen alle, wie die Bedingungen mit geschlossenen Schulen und Lockdowns waren. Für diese Ohnmachtsgefühle gibt es zwei Strategien: Entweder man wird aggressiv und unterdrückt andere oder man zieht sich in sich selbst zurück und wird auf irgendeine Weise selbstverletzend. Depressionen oder Angst- und Essstörungen richten sich nach innen, Gewaltausübung nach außen. Beides sind unbewusste Versuche, wieder Kontrolle zu haben. Viele Heranwachsende haben sich in der Zeit auch vermehrt in mediale Welten mit gewaltverherrlichenden oder zumindest gewaltvollen Inszenierungen hineinbewegt. Da verschieben sich moralische Grundwerte. Es gibt nicht mehr diese Perspektivenübernahme: Wie geht es denn eigentlich dem Opfer und wie fühlt sich das eigentlich an, wenn man gemobbt oder überfallen wird?

Ist in der Corona-Zeit auch soziales Lernen ausgefallen, ein Miteinander, ein Abgleich in der Gruppe?

Auf jeden Fall. Das eine ist diese Vereinsamung, das Zurückgeworfensein auf sich selbst. Das andere ist das Korrektiv durch die Peergroup. Wobei es ja auch Peergroups sein können, die sich zum Teil im negativen Verhalten bestärken. Aber im Gesamtkontext ist es schon so, dass Kinder und Jugendliche keine Möglichkeit hatten, sich sozial weiterzuentwickeln. Zweieinhalb Jahre sind, wenn es um entwicklungspsychologische Aspekte in dem Alter geht, eine Ewigkeit. Die ganzen Nachwirkungen der Corona-Zeit gilt es immer noch abzufedern, sowohl in den Familien als auch in den Institutionen.

Forschung zeigt, dass Kinder in ihrem Erwachsenenleben eher zu Gewalt neigen, wenn sie selbst Gewalterfahrungen machen. Das ist ja inzwischen bei weniger Kindern der Fall. Müsste Gewalt sich dann nicht erübrigen?

So einfach ist es leider nicht. Wenn in der Familie ein aggressives, gewaltvolles Klima herrscht, dann ist das natürlich ein Risikofaktor, dass die Kinder und Jugendlichen selbst Gewalt ausüben. Es gibt aber keinen eindimensionalen Kausalzusammenhang. Es kann sich trotzdem ein Konflikt in einer Gewalttat entladen, auch wenn keine Gewalterfahrung in der Familie gemacht worden ist.

Jemanden anders zu verletzen, gar zu töten, das ist moralisch ganz eindeutig negativ belegt. Was passiert in einer kindlichen Psyche, dass das nicht gilt?

Wir dürfen nicht unsere Erwachsenenvorstellung darüberlegen. Kinder oder Jugendliche sind sich erstens zum Teil noch gar nicht der Reichweite solcher Handlungen bewusst, schon gar nicht in dem Moment der Taten. Das sind, wenn wir jetzt mal auf die Gewalt fokussiert sind, tranceartige Zustände, die eben nicht durchbrochen werden können von einem sogenannten Über-Ich, weil das in dem jugendlichen Gehirn noch nicht so verknüpft ist. Im letzten „Polizeiruf“ am Sonntag hat man das gesehen. Da stand ein Jugendlicher im Fokus, der einen Jüngeren misshandelt hat. Der lacht und die Kommissarin kann nicht ertragen, dass er über seine eigene Tat lacht. Für mich ist das sehr gut gespielt. Dieses Lachen ist eine Art von Verdrängung, von Übersprungshandlung. Kinder und Jugendliche haben Moral- und Wertvorstellungen eben noch nicht so internalisiert wie wir.

Es ist also nicht möglich, diese Taten nach erwachsenen Maßstäben zu beurteilen?

Nein, ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Viele Eltern strahlen ihren Kindern gegenüber auch nicht mehr die Stärke und in einigen Fällen nicht mehr die Autorität aus, die es für die Entwicklung dieser Werte bräuchte. Meine Hypothese, die ich dann bei diesen Mädchen zum Beispiel jetzt überprüfen würde, wäre: Gab es eine Vaterfigur, die als Vorbild oder als Orientierung in der Entwicklung da war? Oder gab es sie eben nicht? Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass, wenn die Väter fehlen, Mädchen zum Teil dazu neigen, in übermäßiges maskulines Verhalten zu gehen.

Sie haben in einer ersten Stellungnahme von einer Affektüberflutung gesprochen, die sich vielleicht in Gewaltausübung entlädt. Was muss ich mir darunter vorstellen?

In der Entwicklung gibt es zwei Trotzphasen, die erste so mit drei bis vier Jahren. Die ist noch relativ leicht zu händeln, weil die Kinder so klein sind. Die zweite Trotzphase ist um die Pubertät herum und hat mit dieser starken hormonellen Veränderung im Körper zu tun. Dabei ist es biologisch so, dass im Gehirn alles durcheinander ist und umgebaut wird. Manchmal äußern sich diese Stimmungsschwankungen, wenn man jetzt in den therapeutischen Bereich geht, als Depression oder als Angststörung. Und in so einem Umbauprozess ist natürlich das Gebäude relativ fragil. Um da alles neu in einer erwachsenen Identität zusammenzusetzen, braucht es starke Bezugspersonen, ob das jetzt die Eltern sind oder Menschen im sozialen Nahraum, an denen man sich orientiert. Wenn dann niemand da ist oder man sich nur an den Medien orientiert, dann ist es halt für manche Kinder und Jugendliche so, dass das in eine falsche Richtung läuft.

Oft scheint es gruppendynamische Prozesse zu geben. Die beste Freundin erscheint plötzlich wie die ärgste Feindin und morgen ist es wieder umgekehrt.

Diese Wechselhaftigkeit gehört zu dieser Altersgruppe. In dem Moment steht kein internales Korrektiv zur Verfügung. Deshalb entlädt sich das auf diese irrationale Art und Weise und verstärkt sich auch in einer kleinen Gruppe möglicherweise noch. Das hat es schon immer gegeben.

Man stellt sich immer ein bisschen die Frage, könnte das mein Kind sein? Was hätte man tun können? Ohne eine Schuldfrage zu stellen, was könnte diese Taten verhindern?

Das ist natürlich schwierig. Eine sehr allgemeine Antwort ist, dass Kinder zumindest in vielen Milieus nicht mehr die Begrenzungen erfahren, die aus meiner Sicht für eine entwicklungspsychologisch gute Entwicklung notwendig wären. Dass wir also die Kinder einfach machen lassen. Man müsste eigentlich neue Erziehungsratgeber schreiben: Es ist wichtig, dass wir den Kindern und Jugendlichen Freiheit geben, aber eben auch Grenzen setzen. In der gegenwärtigen Elterngeneration gibt es die Vorstellung, gute Erziehung ist, wenn das Kind alles selber bestimmen darf. Dabei lernt es aber nicht, dass es auch die Bedürfnisse und Empfindungen anderer gibt und dass man selbst auch mal zurückstehen muss, um in einem sozialen Kontext auch gut leben zu können. Aber es sind nicht die Eltern alleine, an denen Heranwachsende Moral und Wertvorstellungen entwickeln. Es ist auch eine reale Schulklasse, ein realer Sportverein, eine Musikgruppe. Überall da, wo sich Kinder und Jugendliche ausprobieren, lernen sie sozial. Wenn ein Kind in seinen 13 Jahren vor der Tat nicht gelernt hat, was gut und was nicht gut ist und wie man auch auf andere Menschen Rücksicht nimmt, dann kann es das in der Pubertät auch nicht mehr lernen. Das heißt, da fehlt die Basis.

Das klingt nicht so, als könnte das ein Elternhaus allein schaffen.

Nein, das ist eben der entscheidende Punkt, wo wir auch hinmüssen. Wir müssen wieder mehr emotionale und soziale Bildung in den Blick nehmen. Was nicht von den Eltern kommt, müssen halt die Institutionen ersetzen. Aber die Schule fokussiert sich halt leider immer noch ausschließlich auf Inhalt und nicht auf das sozial Emotionale. Eigentlich bräuchten wir in der Schule viel mehr Fächer, in denen Lehrer auch die Möglichkeit haben, mit den Kindern zu diskutieren, Gemeinschaft zu leben, bestimmte Prozesse zu moderieren. Die sozial emotionale Bildung muss in den Institutionen eine viel größere Rolle spielen als die reine Wissensaneignung. Ich merke das zum Teil bei meinen Patienten, die eher mit depressiven Symptomen reagiert haben, dass die Schule dieses ganze Aufholen nur auf die Leistung bezieht und alle extrem unter Druck setzt. Eigentlich braucht es soziale Empathie, also genau das, wovon die Täterinnen vielleicht auch zu wenig haben.

Mit Inés Brock-Harder sprach Solveig Bach

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