Verkehrte Welt in Berlin: Die neue Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) hatte kaum verkündet, dass das Projekt „Fußgängerzone“ auf gut 500 Metern Friedrichstraße in der Innenstadt abgebrochen wird und die Fahrspuren ab dem 1. Juli wieder für Autos geöffnet werden, da empörten sich die Grünen. Und zwar exakt mit den Argumenten, die ihnen die neuerdings in der Metropole regierende CDU jahrelang vorgehalten hatte: Ideologie als Maßstab von Entscheidungen, mangelnde Rücksicht auf Bürgerinteressen sowie Umsatzeinbußen für Handel und Gastronomie.
„Lärm und Abgase“ in der touristischen Hochsaison seien bedauerlich und zum Nachteil der Gewerbetreibenden, „die kaum noch Platz für Tische und Bänke vor ihren Läden haben werden“, sagte Antje Kapek, verkehrspolitische Sprecherin der Grünen im Landesparlament. „Aus dem angekündigten Miteinander wird so ein ideologisch motiviertes Gegeneinander-Ausspielen. Das ewige Hin und Her sorgt für neue Unruhe und schadet in erster Linie der Wirtschaft.“ Kapek warb für ein umfassendes Verkehrskonzept für die historische Mitte – das auch SPD und CDU ihrem Koalitionsvertrag zufolge planen.
Die im Handelsverband Berlin-Brandenburg organisierten Unternehmen teilen die Ansicht der Grünen nicht – im Gegenteil: Sie begrüßen die Entscheidung der Landesregierung, Kraftverkehr auf dem halben Kilometer wieder zuzulassen. Hauptgeschäftsführer Nils Busch-Petersen sagte, die neue Senatorin wolle offenkundig zu „einem konstruktiven und sachdienlichen Dialog“ zurückkehren sowie „Bedenken und Sorgen“ von Anrainern und Ladenbetreibern ernst nehmen. Ähnlich äußerte sich der Wirtschaftskreis Mitte, der sich im Bündnis „Rettet die Friedrichstraße“ engagiert.
Dirk Stettner, Vorsitzender der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, erklärte, Schreiner habe „den dogmatischen Unsinn zulasten von Anwohnern, Gewerbetreibenden und Autofahrern“ beendet – ein eindeutiger Fingerzeig auf die Grünen. Jetzt seien Pragmatismus und Vernunft angesagt. Es werde ein Konzept „zusammen mit Betroffenen“ erarbeitet und abgestimmt – was Händler, Gastronomen und Anwohner von der Landesregierung gefordert hatten.
Die Grünen müssen nun mehr oder weniger tatenlos mit ansehen, wie ihr emotional aufgeladenes Prestigeprojekt rückgebaut wird und ihre Vision der Berliner „Verkehrswende“ unter schwarz-rote Räder kommt. Die Entscheidung, die Friedrichstraße für den Kraftverkehr zu sperren, hatte Ex-Verkehrssenatorin Bettina Jarasch in Abstimmung mit dem Bezirk Mitte getroffen, der von den Grünen politisch klar dominiert wird. Die Bearbeitung der Widersprüche von Bürgern obliegt jedoch Jaraschs Nachfolgerin Schreiner – der Bezirk Mitte hat laut Berliner Landesgesetzgebung kein formales Mitspracherecht.
Im April hatte Jarasch im „Tagesspiegel“ die Sorge geäußert, ob das neue Regierungsbündnis von ihr angeschobene Projekte rückabwickelt. Die Grünen-Politikerin, inzwischen Fraktionschefin ihrer Partei im Abgeordnetenhaus, zeigte sich nach wie vor überzeugt, dass ihr Beschluss, die Straße in eine Fußgängerzone zu verwandeln, richtig gewesen sei, allerdings das „falsche Symbol für die Mobilitätswende“, das den Streit verfestigt habe. „Sie im Wahlkampf zu sperren, hat diese Polarisierung verstärkt.“
So sah es auch Franziska Giffey (SPD), bis vor Kurzem Regierende Bürgermeisterin der Stadt und nun Wirtschaftssenatorin – sie war von Jarasch nicht vorab über die Einrichtung der Fußgängerzone informiert worden. Die Sozialdemokratin kritisierte die Grünen-Politikerin wegen deren Alleingangs kurz vor der Wiederholungswahl im Februar öffentlich.
Die SPD verteidigte nun aber die Entscheidung der neuen Verkehrssenatorin, ohne gegen ihren langjährigen Bündnispartner nachzutreten. Das Erscheinungsbild der Fußgängerzone sei „nicht einladend und darum die Aufhebung“ des Autoverbots „richtig“, teilte Tino Schopf, verkehrspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Landesparlament, via Twitter mit. Er verwies wie die CDU auf das im schwarz-roten Koalitionsvertrag vereinbarte Vorhaben, die Friedrichstraße als Bestandteil eines größeren Plans für das Gebiet rund um den Gendarmenmarkt zu betrachten.
Jetzt beziehen sich die Grünen aufs Gewerbe
Die Grünen in Mitte präsentierten sich einerseits enttäuscht und andererseits lösungsorientiert. Ein generelles Konzept für die historische Mitte zu erarbeiten, sei richtig, weshalb sich ihr Rathaus „gern“ daran beteilige, erklärte Bürgermeisterin Stefanie Remlinger. „Rein zeitlich“ sei der Bezirk von der Entscheidung allerdings „überrascht“ worden. Sie und ihre Mitarbeiter bedauerten, dass die Rückkehr zum Autoverkehr schon zum 1. Juli passiere. Händler mit Ausschank verlören „die Aussicht auf eine gute Saison. Auch lässt der Senat dadurch bereits geplante Veranstaltungen von Gewerbetreibenden vor Ort platzen.“
Remlingers Verkehrsstadträtin Almut Neumann, ebenfalls Mitglied der Grünen, hatte in der „Berliner Zeitung“ mit Blick auf Gewerbetreibende dafür geworben, „die Bescheidung des Widerspruchs zu vertagen und die Friedrichstraße zumindest für diesen Sommer noch so zu belassen“, wie sie gerade ist.
Das lehnte Schreiner aber ab. Eine Sprecherin der Verkehrssenatorin erklärte auf WELT-Anfrage, mehrere Widerspruchsverfahren seien seit knapp drei Monaten anhängig; eines davon sei mit einem gerichtlichen Eilverfahren verbunden.
Die Senatsverwaltung habe entschieden, „den Widerspruchsführern ein Moratorium anzubieten“, sagte sie. Damit solle sichergestellt werden, dass die dauerhafte Gestaltung des historischen Stadtzentrums „nicht durch parallele juristische Verfahren eingeschränkt“ werde oder ein Gericht Festlegungen treffe, sondern „in einem breit angelegten Beteiligungsprozess“ geschehe.
„Rettet die Friedrichstraße“ begrüßte das Vorgehen, zog aber die Klage bislang nicht zurück. Marcel Templin, Anwalt der Interessengemeinschaft, stellte das jedoch in Aussicht: „Die Straße bleibt offen, solange über die Widersprüche nicht endgültig entschieden ist. Die Entscheidung ist daher nicht das Ende, sondern ein wichtiger Wendepunkt.“
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