Vor zehn Jahren steigt weißer Rauch aus dem Schornstein der Sixtinischen Kapelle. Ein neuer Papst ist gewählt, der Argentinier Jorge Mario Bergoglio wählt den Namen Franziskus und setzt erstaunliche Zeichen. Inzwischen hat er den Ruf als Hoffnungsträger etwas verloren.
Es begann mit einem Bruch der Tradition. Der neugewählte Papst Franziskus trat am 13. März 2013 nicht im ornatverzierten Gewand auf den Balkon des Petersdoms, sondern mit dem schlicht weißen „Dienstgewand“ eines Papstes. Er wollte keinen Pomp und auch nicht die roten Papst-Schuhe, die man noch bei seinem deutschen Vorgänger gesehen hatte: „Karneval ist vorbei“, soll er dazu gesagt haben.
Eine starke Botschaft war das, wie seine Antrittsrede, die er mit sehr schlichten Worten begann: „Liebe Brüder und Schwestern, guten Abend“. Er käme vom „anderen Ende der Welt“, da hätten ihn die „Brüder Kardinäle“ abgeholt. Einfacher ging es nicht. Nach dem polnischen Weltreisenden Johannes Paul II und dem deutschen Theologen Benedikt nun also ein einfacher Hirte. Als Kardinal wurde Franziskus noch 2001 von Papst Johannes Paul II“geschaffen“, wie es in vatikanischem Deutsch heißt, also ernannt. Unter dem polnischen Papst genoss die römische Kurie, die Zentralverwaltung der Katholischen Kirche, große Autonomie. Johannes Paul II. war als erster Papst beinah ständig auf Missions-Reisen, um das tägliche Geschäft aber kümmerten sich die Dikasterien, wie die Ministerien im Vatikan heißen, mit ihren etwa 2500 Mitarbeitern. Der wichtigste Mann, der für Wojtyla die Geschäfte geführt hatte, war eben der deutsche Chef des wichtigsten Ministeriums gewesen, der die Reinheit des Glaubens zu überwachen hatte, früher war es als „Inquisition“ bekannt, eben Joseph Ratzinger.
Jorge Mario Bergoglio war im Konklave von 2005 der große Gegenkandidat zu Joseph Ratzinger. Der Deutsche war als Präfekt der Glaubenskongregation seit 1981 einer der wichtigsten Vertrauten Wojtylas, der perfekte Kandidat der Kontinuität, während sich hinter Bergoglio einhellig Lateinamerika, viele Nichteuropäer und all diejenigen versammelten, die auf einen Umbruch hofften. Mit 40 Stimmen gegen die 70 von Ratzinger hatte 2005 Bergoglio eine Sperrminorität gegen den deutschen Kurienkardinal hinter sich, doch dann soll er seine Anhänger aufgefordert haben, Ratzinger zu wählen, der damit sieben Stimmen über das Zweidrittelquorum der anwesenden 115 Kardinale mit Wahlrecht kam: Damals standen sich eine vermeintliche „Kirche der Dritten Welt“ und die römische Vatikanbürokratie gegenüber.
Ein Papst der Armen und Entrechteten
Doch ab jenem 13. März 2013 musste der Mann „vom anderen Ende der Welt“ mithilfe eben dieser Kurie nun die Weltkirche der 1,3 Milliarden Katholiken regieren. Zu Anfang sah es wirklich nach einer großen Umwälzung im Vatikan aus.
„Bergoglio war von Anfang ein Kämpfer für eine arme Kirche, eine Erneuerung an Haupt und Gliedern“, beschreibt ihn Andreas Englisch, Papst-Biograf. Der Umbruch wird schon durch die Wahl von Bergoglio selber belegt: Um einen anderen Nichteuropäer in der langen Liste der 265 Nachfolger des Apostel Petrus zu finden, muss man bis zum 18. März des Jahres 731 zurückgehen, als der in Syrien geborene Heilige Gregorius II. zum Papst gewählt wurde.
Bergoglio setzte weitere Zeichen: Er zog nicht in die weitläufigen päpstlichen Gemächer im apostolischen Palast mit Blick auf den Petersplatz ein, sondern blieb in einem Apartment des Gästehauses im Vatikans wohnen, in Santa Marta. Ein einfacher Diener der Kirche, sollte es heißen.
Die Zentralbürokratie der römischen Kirche schaute misstrauisch auf den Argentinier. Johannes Paul II. hatte das konkrete Regieren, die zahlreichen Formalien, gerne den „Kurialen“ überlassen. Dann die Namenswahl, ein klares „politisches“ Zeichen des Argentiniers mit Vorfahren aus dem Piemont, er spricht immer noch den Dialekt seiner Vorfahren. Bergoglio wählte als Papst-Namens „Franziskus“. Ein starkes Stück.
Den Namen des Heiligen Franz von Assisi, des Heiligen der Armen und Entrechteten, hatte noch kein anderes Oberhaupt der römischen Kirche vor ihm je gewagt zu erwählen. Wer mochte schon den Vergleich mit dem überall verehrten Heiligen aus Umbrien wagen? Jorge Bergoglio traute sich. Sich dem Heiligen von Assisi zu verpflichten, dem Autoren des Sonnengesanges, dem Manne, der mit Vögeln sprach und einen Wolf überzeugte, hieß, die Schöpfung schützen zu wollen, gegen die Profitsucht der Menschen. Ein revolutionäres Projekt für eine Kirche, die gerade in seiner Heimat Argentinien zu oft den Schulterschluss mit den Mächtigen gesucht hatte.
Die „Freude des Evangeliums“
Sein innerkirchliches Reformprogramm veröffentlichte Papst Franziskus gleich im November 2013 unter dem Titel „Evangelii Gaudium“, die „Freude des Evangeliums“. Es war wirklich eine fast revolutionäre Botschaft an seine Kirche: Die Priester sollten ihre Selbstverliebtheit beiseitelegen, sich der Welt öffnen, für die Armen kämpfen, für politischen Frieden und sozialen Ausgleich. Er forderte seine Kirche zum Aufbruch auf. Dem folgte das „ökologische“ Programm, in der Enzyklika „Laudato Si“, im Mai 2015 verfasstes Grundsatzwerk des Schutzes „unseres gemeinsamen Hauses“, der Erde und all ihrer Bewohner: ein echtes ökologisches Manifest, würdig seines Namens.
Doch die Probleme, die Franziskus in seiner Rolle als Papst auf den Arbeitstisch im Santa-Marta-Gästehaus gelegt wurden, waren enorm, von potenziell zerstörerischer Sprengkraft. Beim Finanzskandal an der Spitze der vatikanischen Regierung ging um veruntreute Mittel des Vatikans bei Immobilienspekulationen in London, ein mutmaßlicher Verlust von 800 Millionen Euro. Um diese Summe richtig einzuschätzen, muss man wissen, dass der Haushalt des Vatikanstaates Einnahmen von rund einer Milliarde Euro pro Jahr verzeichnet. Der Papst griff sofort knallhart durch. Seit 2021 wird nun den Angeklagten des mutmaßlichen Betruges der Prozess gemacht, unter ihnen ein Kurienkardinal, Giovanni Angelo Becciu, zunächst ein enger Vertrauter des Papstes.
Die Entschlossenheit, die der Papst beim Aufräumen des Finanzskandals zeigte, ließ er aber bei der Aufarbeitung des weltweiten Missbrauchsskandal an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durch katholische Priester vermissen. Da herrscht ein ganz anderes Klima im Vatikan. Auf der einen Seite gelten zwar neue strenge innerkirchliche Regeln, die als Höchststrafe den Ausschluss vom Priesteramt vorsehen, aber es gibt immer noch keine weltweite Pflicht, mögliche Missbrauchstäter der staatlichen Justiz bekannt zu machen.
Zwar berief der Vatikan 2019 einen Kinderschutzgipel im Vatikan ein, aber weder Ratzinger noch sein Nachfolger Papst Franziskus haben bis heute den Mut aufgebracht, die vermutlichen vielen tausend Akten der Missbrauchstäter in Rom für unabhängige Untersuchungen zugänglich zu machen. Alle Missbrauchsfälle landen innerkirchlich bei der Glaubenskongregation, dem Dikasterium, welches von 1981-2005 von Ratzinger als Präfekten geleitet wurde.
Vertuschung hat System
Wie der Vatikan beim Vertuschen vorging, ist aus den Akten eines Prozesses in Foggia in der ganzen schrecklichen Eindeutigkeit erkennbar. Gianni Trotta, ein ehemaliger Priester, wurde 2016 in Foggia rechtskräftig wegen zahlreicher Fälle von unglaublich gewalttätigem Kindesmissbrauch rechtskräftig für Missbrauchsfälle verurteilt, die er zwischen 2013 und 2014, sofort nach seiner Entlassung aus dem Priesterdienst begangen hatte.
Das wäre nun eigentlich nicht mehr ein Problem der Kirche, wenn Rom den örtlichen Bischof, den Priester, die Polizeistation vor Ort vom Grunde der Entlassung informiert hätte. Der Priester wurde nämlich wegen fortgesetzter Missbrauchsfälle, die aber nur der Kirche bekannt waren, entlassen, man bescheinigte ihm eine „si adest periculum minoribus abutendi“, wie es im Beschluss der Glaubenskongregation vom 16. März 2012 explizit in schönem Latein steht: Er wäre eine Gefahr für Minderjährige im präpupertären Alter, auf die sich der Ordensmann von Don Orione in seiner Perversion „spezialisiert“ hatte.
Doch wie so oft: Entweder werden die Missbrauchstäter von einer Pfarrei zur nächsten versetzt, oder eben heimlich entlassen: Don Gianni zurück in sein apulisches Bergdorf, wo er zwei Jahre weitermachte, von allen immer noch als Priester angesehen. Das brisante Dokument aus dem Vatikan wurde bei Don Gianni zu Hause beschlagnahmt, neben tausenden Pornofotos und Filmen beim Sex mit Minderjährigen: Ein schrecklich eindeutiger Beleg, dass auch unter Ratzinger nicht wirklich aufgeräumt wurde. Der Sekretär unter dem Entlassungsdekret von Don Gianni Trotta, zur Amtszeit von Papst Ratzinger, war spanische Erzbischof Luis Ladaria Ferrer, er wurde dann 2017 zum neuen Chef der Glaubenskongregation ernannt. Das kann man nun wirklich nicht „Aufräumen“ nennen.
Während viele nationale Bischofskonferenzen der Welt ab 2002 eigene Untersuchungen in Auftrag gaben, mit überall ganz furchtbaren Opferzahlen in den Tausenden, schwiegen der Vatikan und die katholische Kirche in Italien komplett. Gerade dort, wo der Papst selber das Oberhaupt der nationalen Kirche ist, passierte nichts. Die Missbrauchsopfer-Vereinigungen sagen: Die Politik des kirchlichen Täterschutzes ist immer noch nicht beendet.
Interviews statt Kommunikation
Der Papst ist nach Kirchenrecht der absolute Herrscher in seiner Kirche. Er ernennt, stellt ein, entlässt. Warum traut sich Papst Franziskus nicht, hier einen klaren Schlussstrich zu ziehen? „Wäre es als moralische Institution nicht sinnvoller“, fragte unlängst der Mitautor des Gutachtens über den Missbrauch in der deutschen katholischen Kirche, der Münchner Rechtsanwalt Ulrich Wastl, „sich der Wahrheit und der eigenen Schuld zu stellen?“ Wenn das Schweigen andauere, würde sich die Kirche bald selbst zerlegen.
Auf großes Unverständnis stößt bei vielen Katholiken deswegen auch die Weigerung von Papst Franziskus, über den Rücktritt von Kardinal Rainer Maria Woelki zu entscheiden. Das Gesuch des Kölner Erzbischofs liege auf seinem Tisch, erzählte Franziskus bereits vor Monaten, aber entschieden habe er noch nicht.
Immer deutlicher wird der Widerspruch zwischen dem Anspruch einer Kirche auf dem Weg, im Dialog mit der Welt, und einem Papst, der alles alleine entscheiden will, nicht einmal mehr mit seinen Bischofsbrüder gerade über die Konsequenzen aus den Missbrauchsskandal in der Kirche auch nur diskutieren will. Beim „ad limina“-Besuch der deutschen Bischöfe in Rom im letzten November verweigerte sich der Papst jeglicher Diskussion über die Reform der Kirche, in Folge des Missbrauchsskandals. Stattdessen gab er Interviews, in denen er salopp meinte, in Deutschland gäbe es schon eine gute evangelische Kirche, man bräuchte dort keine zweite – eine harsche Spitze gegen die deutsche Kirche, die mit dem „Synodalen Weg“ über drei Jahre versucht hat, die Missbrauchskrise der Kirche grundlegend aufzuarbeiten und damit viele Reformen forderte.
Bischof Georg Bätzing bezeichnet die Kirchenführung des Papstes daraufhin als „äußerst fragwürdig“, anstatt mit den deutschen katholischen Bischöfen selber zu sprechen, gäbe er lieber Interviews. Das Geben von Interviews scheint sowieso die bevorzugte Kommunikation des Papstes geworden zu sein – vorbei an den katholischen Gremien, vorbei an der Kurie, vorbei auch an den katholischen Bischöfen der jeweiligen Länder. Auf der Amazonas-Synode 2019 forderten nicht wenige Teilnehmer eine größere Rolle der Frauen in der Kirche, nicht wenige auch die Frauenpriesterschaft – auch um dem enormen Priestermangel begegnen zu können.
Versuch einer Friedensvermittlung
Längst bügelt Papst Franziskus alle Reformwünsche ab, zur Zufriedenheit der Ultrakonservativen. Das zu Anfang so stark betonte „synodale“ Entscheiden, also gemeinsam mit den Bischöfen der Welt, ist zu einem „Reden, Zuhören und dann entscheide ich alleine“ geworden. In jüngsten Interviews bezeichnete er nun die Ehelosigkeit der Priester, den Zölibat, zwar „als eine Regel, die man auch wieder aufheben“ könne. Ein Zuckerbrot, so dahingeworfen, ohne aber konkret zu werden, stattdessen warnte er gleichzeitig vor der „Gender“-Theorie. War das nun wieder eine Spitze gegen die deutsche Kirche, die ja nun am Ende des Synodalen Weges beschlossen hat, auch nicht-binäre Paare kirchlich zu segnen?
Die schärfste Kritik aber schallt Papst Franziskus wegen seiner Haltung zum russischen Überfall auf die Ukraine entgegen. Seine Worte über die NATO, die vor der Tür Russland „gebellt“ habe, unterstrichen für viele das Putinsche Narrativ der „Einkesselung Russlands durch die NATO“. Nach Sicht des Papstes ist längst ein „Dritter Weltkrieg“ im Gange, um Ressourcen, Macht und Einfluss. Dabei sei, so der Papst in seiner Ansprache im Januar 2023 zu den Botschaftern im Vatikan, der Konflikt in der Ukraine nur einer von vielen Schauplätzen des Ringens der Imperien um die Weltherrschaft.
Da war sie wieder, die lateinamerikanische Sichtweise des Mannes, der in seiner Zeit als Chef der Jesuiten in Argentinien seine Mitbrüder vor den Schergen der Militärdiktatur von amerikanischen Gnaden retten musste, wenn sie als Freunde der revolutionären „Tupamaros“ angezeigt worden waren. Bergoglios politische Sozialisierung in Lateinamerika konnte in den USA nur die Auftraggeber eines brutalen Terrorregimes sehen und musste in deren Gegner mindestens nützliche Verbündete sehen, um die eigenen Militärs in Schach zu halten: Die USA, im Prinzip nur ein Imperium unter vielen.
Im Interview mit der argentinischen Tageszeitung La Nación, aus Anlass seines 10-jährigen Dienstjubiläums, erwähnt er nun auch seine drei Treffen mit Putin im Vatikan, „ein sehr kultivierter Mann, der perfekt deutsch und englisch spricht“, damit wolle er aber „kultiviert“ nicht als moralisches Werturteil missverstanden wissen, präzisierte der Papst. Ob der Vatikan an einem Friedensplan arbeite, wird er gefragt. Das bejaht Papst Franziskus: „Der Vatikan arbeitet daran“, „mit Diskretion“. Die Frage ist nur, wieviel Glaubwürdigkeit der Papst noch genießt, bei den Ukrainern, um als wirklich neutraler Vermittler akzeptiert zu werden.