EKD: „Keine Waffe schafft den Frieden. Um ihn zu gewinnen, braucht es andere Mittel“ ALT „Deshalb teilen wir noch lange nicht die Protestformate der ,Letzten Generation‘“
WELT AM SONNTAG: Frau Kurschus, zu Pfingsten gibt es Rock-Festivals, in Berlin den Karneval der Kulturen und bei Bad Kissingen die Oldtimer-Rallye „Fahren wie Gott in Franken“. Wie soll die Kirche dagegen ankommen?
Annette Kurschus: Dagegen ankommen wollen wir gar nicht. Wir erzählen unsere eigene christliche Pfingstgeschichte, geistreich, fantasievoll und gut gelaunt. Die Geschichte gehört zu den buntesten der Bibel. Da müssen wir nicht irgendetwas Abstraktes erklären – die Dreieinigkeit oder den Heiligen Geist.
Die Geschichte handelt von Jüngern, die sich verunsichert verkriechen, weil ihr Christus nicht mehr sichtbar und greifbar für sie ist. Und wie sie aus ihrem Versteck kommen und zu sprechen beginnen zu Menschen aus allen Nationen und Generationen. „Und ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache“, heißt es. Die Jünger reden nicht im Kirchensprech, sondern so, dass die Leute empfinden: „Die sprechen meine Sprache!“ Pfingsten ist ein großes Kommunikationswunder.
WELT AM SONNTAG: Was wäre Kirchensprech?
Kurschus: Eine Redeweise, die den Eindruck erweckt, als pflegten Christen eine unverständliche, anderen Menschen fremde Sprache. Ein „heiliger Jargon“ mit floskelhaften Worten wäre das Gegenteil von dem, wofür Pfingsten steht. Wir brauchen auch kein angestrengtes Überlegen, was wir wie und wann zu wem sagen sollen, damit es möglichst viele erreicht.
Obendrein inhaltlich ganz und gar „richtig“, nach allen Seiten abgesichert und in jeder Hinsicht abgedichtet. Damit setze ich mich keineswegs ein für ein plapperndes Drauflos, wohl aber für ein leidenschaftliches Reden. So, dass der Funke überspringt.
WELT AM SONNTAG: Viele meinen, genau diese Sprache von den Kirchen nicht zu hören.
Kurschus: Deshalb feiern wir ja jedes Jahr Pfingsten. Das ist der Sinn des Kirchenjahrs: Die wiederkehrenden Feste erinnern uns zuverlässig an das, was wir leicht vergessen. Gerade wenn uns die furchtsamen Fragen überfallen: „Wo ist er denn, unser Christus? Was kann ich über ihn sagen? Sind meine Worte längst zu abgedroschen? Wie erkennen andere an meinem Reden etwas von dem, was mich begeistert?“ Wenn ich die Pfingstgeschichte höre, reizt es mich, ganz eigene Worte zu riskieren und ungewohnte Töne anzuschlagen.
WELT AM SONNTAG: Sie wollen, dass Christen nicht immer gegen den Niedergang anrennen, sondern sich auf das besinnen, was sie wollen und können. Klappt das?
Kurschus: Es dauert länger als gedacht. Immer und immer wieder werden wir danach gefragt, was der Rückgang der Mitgliederzahlen mit uns macht, wie wir darauf reagieren und was wir dagegen zu tun gedenken. Ich verstehe die Frage, sie ist aber auch eine Falle, weil sie ausschließlich beim Defizit ansetzt. Sich davon freizumachen, braucht Zeit. Mein Ansatz ist ein anderer.
WELT AM SONNTAG: Gehört dazu Distanz zu politischen Interventionen?
Kurschus: Ich gehe da auf meine Weise dran, bin aber genauso fest wie meine Vorgänger davon überzeugt, dass das Evangelium eine klare politische Dimension hat. Es geht um Gottes Parteinahme für die Schwachen, das ist hochpolitisch. Mir liegt dabei sehr daran, den Zugang zu solchen Positionen erkennbar aus meiner christlichen Überzeugung herzuleiten. Ich bin ja keine Politikerin.
WELT AM SONNTAG: Kirchenaustritte gibt es mittlerweile nicht nur aus Nicht-Glauben, sondern auch weil vielen die Kirche zu politisch ist, zu links.
Kurschus: Vielen anderen ist dieselbe Kirche zu konservativ in ihren Positionen. Unsere Kirche ist parteipolitisch weder gebunden noch festgelegt. Wir richten uns allein am Evangelium aus. Da kann es sein, dass unsere aus dem Evangelium gewonnenen Überzeugungen sich auch in Programmen von Parteien wiederfinden.
WELT AM SONNTAG: Auffällig oft im Grünen-Programm.
Kurschus: Sind Sie da sicher? Ich bin es nicht. Wenn es im Bereich Klimaschutz der Fall ist, dann nicht aus parteipolitischen Gründen, sondern als Folge unseres kirchlichen Auftrags: wachsam und konsequent für die Bewahrung der Schöpfung Gottes einzutreten, die uns nicht gehört.
WELT AM SONNTAG: Bis hin zur Ablehnung der Atomkraft?
Kurschus: Ich bin weiterhin davon überzeugt: Die Atomkraft ist eine Kraft, der wir uns nicht verschreiben sollten, weil sie nicht nur wegen der Endlagerfrage völlig außer Kontrolle geraten kann. Dabei bleibe ich. Auch wenn sich heute die Frage stellt, wie wir bei einem notwendigen Verzicht auf fossile Energien all den Strom erzeugen wollen, der unter anderem für Elektromobilität und andere Wärmeerzeugung benötigt wird.
WELT AM SONNTAG: Sollten solche Fragen, sollten Kontroversen zur Atomkraft kirchenöffentlich in aller Pluralität diskutiert werden?
Kurschus: Sie „sollten“ nicht, sie werden bei uns öffentlich und in aller Pluralität diskutiert, auch wenn uns das den Vorwurf einträgt, wir sprächen hier oder dort nicht mit einer Stimme und seien ohne klare Position.
WELT AM SONNTAG: Im November 2022 konnte eine Sprecherin der Gruppe „Letzte Generation“ auf der EKD-Synode in Rede halten. Obwohl diese Gruppe von vielen Kirchenmitgliedern sehr kritisch gesehen wird, gab es in der Synode fast durchweg Sympathiebekundungen.
Kurschus: Ja, laute. Und daneben gab es auch zahlreiche Synodale, die still waren und keinen Beifall gespendet haben. Das hatte sehr stark mit emotionalen Dynamiken zu tun. Die Angst der jungen Menschen vor der Zukunft ist deutlich rübergekommen. Diese Angst geht mir unter die Haut.
Klare synodale Unterstützung gab und gibt es für das Grundanliegen, keine Zeit mehr zu verlieren und jetzt konsequent alles dafür zu tun, dass auch kommende Generationen gut auf der Erde leben können. Deshalb teilen wir aber noch lange nicht die Protestformate der Gruppe „Letzte Generation“.
Ohne Zweifel: Es braucht starke inhaltliche Weckrufe, die sich an uns selbst und an die Gesellschaft richten. Aber auf der Synode wurde zu wenig thematisiert, dass es zur Wahl der Protestmittel auch ganz andere Meinungen gibt. Formen des Protestes, die den rechtlichen Rahmen unserer Grundordnung überschreiten, müssen im Rechtsstaat mit Sanktionen rechnen.
WELT AM SONNTAG: Dann aber fragt sich, ob die Synode, die landläufig als Kirchenparlament gilt, das plurale Meinungsspektrum der Kirche in so einem Fall adäquat repräsentiert.
Kurschus: Sie dürfen die Einmütigkeit, mit der die Synode am Ende Beschlüsse trifft, nicht mit einem engen Meinungsspektrum gleichsetzen. Synodentagungen sind Orte, an denen wir über viele Tage und auf vielen Ebenen miteinander und mit Menschen außerhalb der Kirche ins Gespräch kommen und um Positionen ringen. Das ist ein wichtiges Element.
Natürlich waren und sind wir ganz und gar nicht einer Meinung. Im Anschluss an die Synode ist in unserer Kirche eine breite Diskussion über Klimaschutz und Protestformen entstanden, und die ist wichtig.
WELT AM SONNTAG: Wie steht es um die Diskussion über die kirchliche Friedensethik, die angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine überarbeitet werden soll?
Kurschus: Schon der Diskussionsprozess als solcher ist ein wichtiger Schritt. Wir haben uns klargemacht, dass wir die christliche Haltung zu Krieg und Frieden nicht ein für alle Mal fertig im Sack früherer Beschlüsse haben, sondern sie weiterdenken und aktuell ausbuchstabieren müssen. Und zwar in einem großen Beteiligungsprozess – das ist neu! –, an dem unsere kirchlichen Friedensgruppen, Akademien und Synoden auch mit Expertinnen und Experten diskutieren.
Neu ist auch, dass viele, die bisher konsequent pazifistisch ausgerichtet waren, nun das Selbstverteidigungsrecht eines völkerrechtswidrig angegriffenen Staates anerkennen. Auch militärische Selbstverteidigung wird da zugestanden. Nun steht uns die Aufgabe bevor zu vermitteln, was auch wahr ist: Dass keine Waffe den Frieden schafft. Um den Frieden zu gewinnen, braucht es andere Mittel.
WELT AM SONNTAG: Wie ergeht es Ihnen auf dieser Gratwanderung?
Kurschus: Bei mir hinterlässt die Dauer des Diskussionsprozesses Spuren. Das Recht auf eine militärische Selbstverteidigung steht für mich außer Frage, und Waffenlieferungen halte ich für verantwortbar. Aber je länger dieser Krieg dauert, desto dringlicher wird für mich die Frage: Wie viele Menschenleben soll und darf er denn noch kosten? Es kann nicht ohne Gespräche gehen, die auf Waffenstillstand zielen …
WELT AM SONNTAG: … aber allein dem russischen Aggressor nutzen würden, weil er in den besetzen Gebieten sein Terrorregime konsolidieren und Kräfte für den nächsten Angriff sammeln könnte.
Kurschus: Ja, diese Gefahr besteht, und es gilt, entsprechend Vorsorge zu treffen, dass sie sich nicht bewahrheitet. Es dürfen nicht Verhandlungen für einen Waffenstillstand sein, bei dem sich die Ukraine gewaltsamem Zwang beugen müsste. Dennoch muss auf jede nur mögliche Weise überlegt werden, welche Form von Gesprächen geeignet sein könnte, um diesen Krieg zu beenden, ohne der Ukraine Unzumutbares aufzubürden.
WELT AM SONNTAG: Einige evangelische Theologen plädieren dafür, dass sich nicht rechtfertigen muss, wer einem unschuldig angegriffenen Land Waffen liefert, sondern wer das verweigert. Was halten Sie davon?
Kurschus: Das ist eine bedenkenswerte These, die dem unmittelbaren emotionalen Reflex entspricht, den ich selbst nach dem russischen Überfall hatte: Selbstverständlich müssen wir der Ukraine helfen, auch militärisch, das steht doch außer Zweifel! Mit der Zeit und mit ein bisschen Abstand werde ich inzwischen nachdenklicher: Sind Überzeugungen – Frieden schaffen ohne Waffen –, die ich vorgestern noch hatte, wirklich plötzlich nahezu undenkbar, sobald jemand angegriffen wird?
Ich will damit überhaupt nicht sagen, die Entscheidungen für Waffenlieferungen seien übereilt gewesen, ich halte sie weiterhin für sehr gut begründet. Aber wir müssen weiterhin genauso gründlich und kontrovers auch darüber diskutieren, wie wir uns unsere Meinungen bilden und warum wir sie gegebenenfalls ändern. Hierbei sind alle Seiten gleichermaßen begründungspflichtig.
WELT AM SONNTAG: Kirchliche Friedensethik ist sehr reaktiv. Bis 1989 ging es um die Blockkonfrontation. Dann um Bedingungen für Auslandseinsätze, die alsbald aber aufhörten. Nun Waffenlieferungen. Frustriert es Sie nicht, dass Friedensethik stets nachgelagert ist und keine Vorab-Vorgaben setzt?
Kurschus: Ihre Analyse hat viel für sich, aber Nachdenklichkeit und Nachträglichkeit gehört zur Ethik. Das frustriert mich nicht. Es geht doch um Lernprozesse und um konkrete Situationen, mit denen sie sich auseinandersetzen muss. Man lernt in der Regel, indem man etwas erlebt, darüber nachdenkt und daraus dann in aller Vorsicht und Vorläufigkeit Maßstäbe zu entwickeln versucht.
Das ist kein Wankelmut, jedenfalls nicht dann, wenn wir auch über unsere eigenen Reaktionen nachdenken. Es wäre unchristliche Selbstüberhebung, wenn wir behaupten würden, von vornherein zu wissen, wo es langgeht.
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