Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
der Busfahrer fährt wie ein Irrer und gibt noch mal Gas. Haarsträubende Serpentinen schlängeln sich am Abgrund entlang. Aber der Mann ignoriert das Bremspedal. Knapp am Rand der Katastrophe rast er zu Tal, es ist ein Wahnsinn, aber irgendwie geht es immer wieder gut. Na ja, er macht das ja berufsmäßig. Er wird schon wissen, was er tut, jedenfalls hofft man das. Aber mal ehrlich: Wollen wir da wirklich einsteigen? Es wäre schön, wenn wir vorher gefragt worden wären, aber die Nationen dieser Erde – Deutschland inbegriffen – haben schon längst auf ihren Plätzen gesessen, als die irre Fahrt mal wieder losging. Außen auf den Bus ist das Sternenbanner gepinselt, beim Einsteigen sagte der Fahrer noch: „Welcome to America!“
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In den USA spielen sich in diesen Tagen hoch riskante, verantwortungslose politische Manöver ab. Die regierende Partei der Demokraten und die opponierenden Republikaner können sich nicht auf einen Kompromiss einigen – so weit, so normal. Diesmal müssten sie allerdings die Schuldenobergrenze erhöhen, um rechtzeitig die „technische Zahlungsunfähigkeit“ der USA abzuwenden. Klingt irgendwie unangenehm, aber auch kompliziert – vielleicht ist es für uns gar nicht so wichtig? Schön wär’s.
Im Prinzip ist die Sache ganz einfach. Der US-Kongress hat festgelegt, wie hoch die Schulden sein dürfen, die der amerikanische Staat am Hals hat. Das Limit – zurzeit beeindruckende 31.400 Milliarden Dollar – ist bereits erreicht. Nun kann der Staat nur noch mit Tricks und den laufend hereinkommenden Steuereinnahmen wirtschaften: von der Hand in den Mund. Bestehende Kredite, die fällig werden, können die USA bald nicht mehr zurückzahlen. Das sorgt natürlich für Aufruhr bei den Gläubigern. Die Weltmacht wäre zahlungsunfähig. Wann also ist die kritische Schwelle erreicht? Die Antwort ist schockierend: In sechs Tagen könnte es so weit sein.
Was danach passiert, ist gar nicht so einfach zu beantworten, denn das gab es noch nie. Sicher ist: Wenn der Kongress die Krise nicht in letzter Minute noch verhindert, wird es schlimm. Sehr schlimm. Die Wirkung entfaltet sich weltweit, denn die amerikanischen Staatsanleihen gelten eigentlich als unerschütterlich sichere Geldanlage. Sie werden deshalb bei den immensen täglichen Geldbewegungen auf den internationalen Finanzmärkten zur Absicherung der Geschäfte benutzt – in einem Umfang, der das Vorstellungsvermögen sprengt. Das funktioniert dann nicht mehr.
Und dann? Zu Beginn der Krise werden die Betroffenen rund um den Globus die Zähne noch zusammenbeißen, in der Hoffnung, dass der US-Kongress angesichts der Katastrophe zur Besinnung kommt, das Schuldenlimit anhebt und die Gefahr abwendet. Um Zeit zu schinden, werden das Finanzministerium und die Zentralbank in Washington außerdem tief in die Trickkiste greifen. Aber die Nervosität steigt schon jetzt von Tag zu Tag. Sollten die Geldquellen versiegen, rechnen Experten mit einer sofortigen Kürzung der Staatsausgaben um ein Viertel: soziale Hilfeleistungen und Renten wären betroffen, Behörden würden handlungsunfähig, Stillstand allerorten. Ein scharfer Abschwung in die Rezession, rasanter Anstieg der Arbeitslosigkeit und Absturz der Börsenkurse stehen als nächstes auf dem Programm. Leider kann man diese Einschätzungen nicht als politisch motivierte Schwarzmalerei beiseiteschieben. Weltweite Schockwellen würden sich anschließen. Wenn die US-Regierung zahlungsunfähig wird, führt der Weg in eine globale – und bizarrer Weise völlig vermeidbare – Mega-Krise.
Spätestens jetzt drängt sich die Frage auf: Warum, um Himmels willen, machen die das? Was ist so schwer daran, das Schuldenlimit anzuheben? Man könnte auch andersherum fragen: Das Drama um die Anhebung der Obergrenze spielt sich nicht zum ersten Mal ab. Schon öfter haben Republikaner und Demokraten bis kurz vor Ultimo gepokert, um sich vor der Zustimmung zu einem Kompromiss gegenseitig politische Zugeständnisse abzuringen. Ist die Aufregung also nur Theater, und am Ende werden sich die Streithähne sowieso zusammenraufen?
US-Medien berichteten in der Nacht, es habe Fortschritte bei den Verhandlungen gegeben. Drücken wir die Daumen. Es ist verlockend, von einer Einigung auszugehen, denn angesichts der katastrophalen Konsequenzen steigt der Druck auf die Verhandler von Stunde zu Stunde. Verbände machen mobil, Lobbygruppen der Industrie legen sich ins Zeug, niemand will ein Debakel. Oder genauer: fast niemand. Denn die Zeiten, in denen sich schlussendlich alle Abgeordneten dem nationalen Interesse unterordneten, sind mittlerweile leider vorbei.
Der Einfluss der politischen Extremisten war im Kongress noch nie so groß wie heute. Rechte Abgeordnete aus dem Trump-Lager haben sich das Recht erstritten, den Sprecher des Repräsentantenhauses – ihren republikanischen „Parteifreund“ Kevin McCarthy – jederzeit aus dem Amt zu jagen. Der Mann ist nicht zu beneiden. Erst im Januar hatte er es mit Ach und Krach auf den Posten geschafft – nach einem nervenaufreibenden Poker, einer tagelang wiederholten Abstimmung mit 15 Wahlgängen und Zugeständnissen zuhauf an die rechten Hardliner. Die sind jetzt im Haushaltsstreit zu keinem Kompromiss bereit. Ihre Stimmen wären eigentlich sogar verzichtbar, aber falls McCarthy im Tauziehen mit den Demokraten auch nur ein Quäntchen zu große Zugeständnisse macht, kostet es ihn sein Amt.
Allein dadurch ist die Hürde für eine Einigung schon besorgniserregend hoch. Doch nicht nur das Repräsentantenhaus, sondern auch der Senat muss sein Okay geben. Dort kann sich Präsident Joe Biden zwar auf eine hauchdünne Mehrheit stützen, ist allerdings auf das Wohlwollen der Parteilinken angewiesen, die sich gegen Zugeständnisse an die Republikaner mit Klauen und Zähnen wehren. Bisher ist in letzter Minute ein Kompromiss immer möglich gewesen. Aber noch nie war es so unsicher, dass das gelingt. Die politischen Ränder verhindern den Schulterschluss der breiten Mitte. Und nehmen den Rest der Welt in Geiselhaft.
Angesichts der verfahrenen Lage kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass es bei diesem Pokerspiel eigentlich nur Verlierer gibt. Deshalb möchte ich Ihnen rasch noch die Gewinner vorstellen. Sie tragen immer noch ihre roten Käppis, auf denen „Make America Great Again“ steht, schmücken ihre Autos und Vorgärten mit großen amerikanischen Flaggen und haben den Vorrat an Trump-T-Shirts in ihrem Kleiderschrank gerade frisch aufgefüllt. Washington sei ein Sumpf, hat ihr Meister ihnen schon immer souffliert. Dort balge sich eine korrupte, selbstbezogene Mischpoke um Macht und Privilegien, ohne für Amerika noch irgendetwas auf die Reihe zu bringen: Loser, Vollpfosten, Versager!