Wenn die Zahl Drei wiesengrün ist oder die Gitarre mintfarben klingt: Menschen mit Synästhesie haben eine ganz besondere Art der Wahrnehmung, ihre Sinne sind miteinander gekoppelt. Für sie ist eine bunte Farbwelt Alltag – und manchmal auch eine Herausforderung.
Sich an Telefonnummern, Geburtstage und Pins zu erinnern, ist für Susanne Geisler kein Problem. Sie hat dabei keine Zahlenfolgen im Kopf, sondern Farben. „Ich merke mir zum Beispiel eine Pin nicht als 3456, sondern als grün-weiß-blau-gelb“, erzählt die Künstlerin im Gespräch mit ntv.de. Und das passiert ganz automatisch, denn Geisler ist Synästhetin.
Synästhesie ist ein neurologisches Phänomen. Der Begriff leitet sich von den altgriechischen Wörtern „syn“ (zusammen) und „aisthesis“ (Empfinden) ab. Gemeint ist damit, dass zwei Sinne miteinander verknüpft sind, ein Reiz löst also gleichzeitig eine weitere Wahrnehmung aus. So können Namen nach etwas schmecken oder eine Emotion wird als geometrische Form visualisiert. Am häufigsten sind das „Coloured Hearing“, das farbliche Hören von Tönen, und die Graphem-Farb-Synästhesie, bei der Zahlen, Buchstaben und sogar ganzen Wörtern bestimmte Farben zugeordnet sind.
Für Susanne Geisler haben die Zahlen von eins bis zehn spezielle Farben und die Zehnerkategorien jeweils eine Hauptfarbe. Wie das konkret aussieht, erklärt sie an einem Beispiel: „Die Drei ist bei mir so eine Art Wiesengrün. Wenn ich die Zahl 13 habe, dann ist das eine Kombination aus der schwarzen Eins und der wiesengrünen Drei. Und die Dreißiger bekommen alle so einen grünen Schimmer.“ Obwohl sie sich so Zahlen schnell merken könne, falle ihr Rechnen schwer, erzählt Geisler. „Schon in der Schule war ich nicht gut in Mathematik, weil ich das Gefühl hatte, dass bestimmte Farbkombinationen einfach nicht mit anderen Farbkombinationen zusammenpassen.“
Nicht steuer- oder erlernbar
Geisler gehört zur Gruppe der Synästhetinnen und Synästheten, die beispielsweise eine Zahl hören, sehen oder denken und damit eine Farbe assoziieren. Andere wiederum sehen die farbige Ziffer wie auf einem inneren Monitor. In allen Fällen kann die Wahrnehmung nicht bewusst gesteuert werden und ist andersherum auch nicht erlernbar. Die Farbzuordnungen bleiben in der Regel ein Leben lang unverändert. Laut der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft haben etwa vier Prozent der Menschen synästhetische Fähigkeiten. Insgesamt ist diese besondere Art der Wahrnehmung bei mehr Frauen als Männern bekannt und und oft gibt es Häufungen innerhalb einer Familie, was eine Vererbung nahelegt.
Bei Synästhetinnen und Synästheten sind verschiedene Hirnregionen auf besondere Weise miteinander verbunden. Das führt zu einer vielfältigeren Wahrnehmung. Wie genau diese Kopplung entsteht, darüber rätselt die Neurowissenschaft bis heute. Einen Überblick über das Phänomen Synästhesie, den Stand der Forschung und 13 Erfahrungsberichte bietet das Buch „Welche Farbe hat der Montag?“ von Udo Schneider, Markus Zedler und Hinderk Emrich. Eine Erkenntnis ist dabei unumstößlich, nämlich „dass es sich nicht um eine Krankheit, sondern um ein Privileg handelt, wenn sich Nervenzellen mehr miteinander verschalten als bei anderen.“
Viele Menschen mit Synästhesie merken schon in ihrer Kindheit, dass sie anders wahrnehmen als die meisten Personen in ihrer Umgebung. Aber nicht immer sind die Reaktionen darauf positiv. Diese Erfahrung musste auch Susanne Geisler machen. Als sie in der Schule ein kurzes Gedicht schon nach einmaligem Lesen auswendig konnte, ging das große Tuscheln in der Klasse los. „Ich habe gemerkt, dass das irgendwie in meiner Umwelt nicht so gut ankommt, dass ich es lieber für mich behalte.“ Ihre Farbassoziationen wurden für sie selbstverständlich und sie sprach nicht mehr darüber.
„Ich verstehe die Farben da einfach nicht!“
Im Jurastudium staunten ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen dann nicht schlecht, weil sie sich schnell die über 2000 Paragrafen des BGB merken konnte. „Da kamen erste Bewusstseinsmomente, dass da eine besondere Wahrnehmung, eine besondere Orientierung ist“, erzählt Geisler. Mit Anfang 30 kehrte sie der Juristerei den Rücken, um Musikerin zu werden, nahm klassischen Klavierunterricht und verzweifelte an einem Präludium von Johann Sebastian Bach. „Meine Lehrerin fragte, warum es mich immer an der einen Stelle raushaut und ich antwortete: ‚Ich verstehe die Farben da einfach nicht‘.“ Der Lehrerin war Synästhesie ein Begriff und mit 33 Jahren bekam Geisler endlich ein Wort für die bunte Wahrnehmungswelt, die sie jeden Tag erlebt.
Heute ist Geisler als Musikerin und Komponistin tätig und lässt ihre besondere Fähigkeit des „Coloured Hearing“ in ihre Arbeit einfließen. Neben Geräuschen, Tönen und Klängen sind für sie auch bestimmte Instrumente mit Farben verknüpft: „Wenn ich mir ein Musikstück anhöre, ist es erstmal eingefärbt in eine bestimmte Farbe. Dann kann ich mich reinzoomen und entscheiden, ob ich mich eher in diese mintfarbene Richtung bewegen möchte – das sind dann Gitarren oder Geigen – oder eher in diese dunkelviolette Bassrichtung.“ Verbunden mit den Farben sind Bewegungen, die sich vor Geislers innerem Auge „wie eine Landschaft“ ausprägen: „Ich sehe das Klangbild im wahrsten Sinne des Wortes – mit den Hochs und Tiefs“.
Unter den bekannten Synästhetinnen und Synästheten finden sich besonders viele Menschen mit kreativen Berufen. Der Maler Wassily Kandinsky zählt dazu, für den Schriftsteller Vladimir Nabokov war das T pistazienfarben und der Komponist Franz Liszt soll 1842 einem Orchester in Weimar gesagt haben: „Das ist ein tiefes Violett, ich bitte, sich danach zu richten! Nicht so rosa!“ Zeitgenössische Personen mit Synästhesie sind zum Beispiel die Sängerin Lady Gaga, der Rapper Pharrell Williams, der Maler David Hockney oder die Pianistin Hélène Grimaud.
Was im Beruf eine Quelle der Inspiration ist, kann im Alltag allerdings auch anstrengend sein. „Für mich ist eine halbe Stunde U8 (eine U-Bahn-Linie in Berlin, Anm. d. Red.) so anstrengend wie ein Acht-Stunden-Arbeitstag“, berichtet Susanne Geisler. Die Künstlerin wohnt auf einem quirligen Kiez mitten in Berlin, der durchaus auch für nicht synästhetisch veranlagte Personen reizüberflutend sein kann. Großstadttrubel und vielfältige Geräusche von menschlichem Stimmengewirr bis Krankenwagensirenen sind dort der Normalzustand. „Ich gehe sehr oft geschützt aus dem Haus, mit Ohrstöpseln, sodass ich ein bisschen mitbestimmen kann, wann und wie die Farben ausgelöst werden.“ Abgesehen von diesen kleinen Herausforderungen ist ihre synästhetische Gabe für Geisler aber vor allem eins: „unglaublich bereichernd“.